Autor Thema: Rituale des Wahns  (Gelesen 1563 mal)

Erich Kykal

Rituale des Wahns
« am: August 01, 2024, 14:20:01 »
1 - Menschenopfer

Dem Gotte bin ich selbstlos hingegeben,
man zog mich als sein Menschenopfer auf,
erklärte meinen Zweck mir im Verlauf
der Kindheit schon: Ein dargebrachtes Leben.

Des Gottes Segen soll ich ihnen bringen,
indem ich auf mich nehme, was mir frommt,
auf dass der Freudentag, wenn er denn kommt,
mich willig sieht zu würdigem Gelingen.

Nun ist er da! Ich stehe vor dem Tempel,
in Weiß gewandet wie ein Opferlamm,
um mich herum die Eltern und der Stamm -
ein wahrhaft unterwürfiges Exempel.

Ich beuge mich dem Ebenbild des Wahren
und fühle kaum den Kuss der Priesterschneide
an meinem Halse reiben wie Geschmeide,
der meine Weg beendet vor den Jahren.

Mein heißes Blut verlässt die junge Hülle,
das wilde Herz pumpt meinen Körper leer,
und ich verblasse ohne Gegenwehr
für meines Volkes Ernteglück und Fülle.





2 - Frauenbeschneidung

Ich liege vor dem Frauenzelt im Sande,
geschmückt und freudig zugetan dem Fest,
das endlich mich zum Weibe werden lässt,
war ich doch bisher nur ein Kind am Rande.

Die Frauen halten mich, damit ich bleibe,
wo man mich haben muss, damit ich blute,
denn nur im Opfer finde ich das Gute,
das sonst nicht ist in einem niedern Weibe.

Die Klinge schneidet jäh in meinem Schoße,
entfernt die Lust, damit ich meinem Mann
allein gehorsam und ihm treu sein kann,
so will es unser Gott, der wahrlich Große.





3 – Fußdeformation

Die wahre Schönheit liegt in Trippelschritten
von winzigen und kurzen Frauenfüßen,
die Männern unsern Anblick so versüßen,
dass sie beinahe um Erlösung bitten.

Und wie schon ihre Mutter es verstanden,
so schnürt auch meine Mutter mich zurecht
zur edlen Zierde früh für mein Geschlecht,
und keine Tränen, die mir Gnade fanden.

So kann ich heute vielleicht kaum noch laufen,
doch bin ich tapfer eine wahre Braut,
und jeder Mann, der meine Füße schaut,
will mich für sich und seine Zukunft kaufen.





4 – Eunuchentum

Teil I

Ich war gerade elf geworden heuer,
da ließ der Sultan neue Knaben suchen,
zu dienen ihm als eifrige Eunuchen.
Mein Väterchen verkaufte mich ihm teuer.

Schon Tage später lag ich unter Blicken,
betäubt von Kräutern, eisern festgehalten
und schrie die Täter an bei ihrem Walten,
mich in entmannte Sklaverei zu schicken.

Noch viele andre wurden dort geschnitten,
und manche starben auch in ihrer Pein.
Man zuckte nur: 'Es hat nicht sollen sein.'
die Achseln und erhörte doch kein Bitten.

Teil II

Man nannte göttlich meine Knabenstimme
und wollte sie erhalten für die Welt,
und sprach, da so ein Wohlgesang gefällt,
dass Gottgefälligkeit mein Los bestimme.

Nun singe ich Sopran auf hohen Bühnen,
geehrt und angehimmelt, aber tot,
und folge täglich singend dem Gebot,
die Gottesgabe dieserart zu sühnen.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Rituale des Wahns
« Antwort #1 am: August 01, 2024, 15:34:11 »
Hallo Erich,

"Rituale des Wahns", das fasst alle Gedichte zusammen. Die Reihe ließe sich erweitern, etwa auf Kindersoldaten, die im Krieg verheizt werden. Und X andere Beispiele.

Was mir auffällt: Deine Gedichte wirken schön, glatt wohlgefällig, aber eigentlich schreien sie nach Entsetzen und Anklage.

Es kommt der Eindruck auf, dass Leid auch sein Gutes hat, wenn es Inhalt eines Gedichts wird.

Brecht hat das mal kritisiert und das führte ihn zu Prosagedichten. Ich weiß: Du hast dazu eine klare Meinung. Ich will Dir nicht widersprechen, nur anmerken: Ob ein grausiger Inhalt, in Prosaforn, nicht besser aufgehoben wäre?

Soll ich sagen, das mir Deine "Rituale des Wahns" gefallen?
Sie demonstrieren Dein Können und Deine Sprachkraft, aber "gefallen" tun sie mir nicht.

Dir einen schönen Tag!

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Rituale des Wahns
« Antwort #2 am: August 01, 2024, 21:51:27 »
Hi Roc!

Die Gedichte dürfen dir gefallen, zumindest vom rein poetischen Standpunkt, denn ich widerspreche Brecht: Ich finde, gerade die gruselige Diskrepanz von literarischer Wertigkeit und schauderhaftem Inhalt kitzelt die Großhirnrinde übersättigter Bildungsbürger und regt sie eher zum Nachdenken an als kümmerliche sogenannte Prosagedichte, die m.E. nichts mehr mit Lyrik zu tun haben - zumindest so, wie ich sie definiere.

Du hast recht, die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, auch wenn ich das Entführen, das grausame Indoktrinieren und das Verheizen von Kindersoldaten jetzt nicht als Ritual bezeichnen würde. Wenn erstarrte Riten wichtiger werden als die Menschen, die darunter leiden, dann überschreiten sie eine feine Grenze, egal wie viele Anhänger diesen Ritualen nachhängen und sie verteidigen. Das reicht vom extrem ritualisierten Leben in einer Sekte (siehe Davidianer oder Massensuizide höriger Entmündigter) oder einem von einem Diktator gelenkten Militärstaat bis zu den alltäglichen und überlieferten politischen, gesellschaftlichen und religiösen Ritualen, die gemeinschaftsstiftend sind und eine kulturelle Gemeinschaft definieren.

Rituale sind der Tod des offenen Geistes, so sinnvoll sie manchen auch erscheinen mögen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.