Autor Thema: Der Irrgarten  (Gelesen 1222 mal)

gummibaum

Der Irrgarten
« am: April 29, 2023, 18:54:09 »
Mein Leben kreist in dem Gehege:
Ein Irren zwischen hohen Hecken,
die sich konzentrisch um die Wege
und ihren feinen Kies erstrecken.

Ich fühle darin meine Spuren
und weiß, ich bin hier längst gegangen.
Mir grinst etwas aus den Gravuren
und hält mich in mir selbst gefangen.

Denn immer noch treibt mich ein Hoffen,
dass ich einmal ins Freie finde,       
ich stolpre  … und die Welt ist offen,
und von den Augen fällt die Binde …
« Letzte Änderung: April 30, 2023, 10:04:40 von gummibaum »

Sufnus

Re: Der Irrgarten
« Antwort #1 am: Mai 13, 2023, 12:30:49 »
Hey gum!
Der Lebenslauf (Curriculum vitae) ist ja eine so gängige Metapher, dass sie als solche kaum noch erkennbar ist. Dahinter steckt das Bild eines mehr oder weniger verschlungenen, mehr oder weniger langen Reisewegs von der Geburt bis... naja... zum Zieleinlauf.
Du hast in Deiner Beschreibung das Zielgerichtete der Reise von Alpha nach Omega in Frage gestellt, der Protagonist irrt in dem Lebenslabyrinth sogar im Kreis. In S2 wird geschildet, wie das lyrische Ich in seine eigenen Fußstapfen tritt, wobei er diese nicht sieht sondern nur fühlt. Die Auflösung für diese sensorische Einschränkung folgt dann in S3: Der Ich-Erzähler ist nicht nur mit einem labyrinthischen Lebenslauf geschlagen, sondern muss diesen Parcours auch noch mit einer Augenbinde absolvieren, dabei immer angetrieben von der (vergeblichen?) Hoffnung einmal doch den Ausgang zu finden.
Ich muss an den argentinischen Karikaturisten Mordillo denken. Außer von Giraffen, Hochzeitspaaren und einsamen Inseln war dieser melancholische Zeichner offensichtlich auch von Labyrinthen fasziniert, die immer wieder in seinen Zeichnungen auftauchen und eine Chiffre für die Absurdität des Lebens darstellen. Mir fällt z. B. sein Cartoon ein, in dem ein offenbar von einem wehen Zahn geplagter Patient den Trick mit der Schnur und dem Türknauf anwenden möchte: Schnur um den Zahn, mit Türknauf verbinden, drauf warten, dass jemand die Tür aufreißt. Dumm nur, dass sich hinter der Tür ein unüberschaubar verwinkeltes Labyrinth erstreckt und das Zahnopfer daher wohl lange auf Erlösung warten muss.
LG!
S.

Erich Kykal

Re: Der Irrgarten
« Antwort #2 am: Mai 14, 2023, 17:27:19 »
Hi Gum!

Warum darf der Protagonist die Binde erst abnehmen (bzw. fällt sie erst ab), wenn er ins Freie stolpert? Hat er selbst sich diese Einschränkung auferlegt? Ist das eine Metapher auf all die freiwilligen geistigen Einschränkungen und Grenzen, die wir uns im Leben freiwillig ziehen, wie zB. Religionen und andere Welterklärungsmodelle mit Ausschließlichkeits- und Ultimativcharakter, nur um irgendwo dazugehören zu dürfen oder darüber Macht erlangen zu können?

Was hindert ihn daran, die Binde schon im Labyrinth abzulegen, um sich besser zurechtfinden zu können? nur, weil alle anderen darauf bestehen, dass sie dort nötig ist?

Interessanter Text. Sehr gerne gelesen!  :)

LG, eKy
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Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Der Irrgarten
« Antwort #3 am: Mai 17, 2023, 01:22:38 »
Lieber Sufnus,

hab Dank für die Besprechung des Gedichts und den Hinweis auf den Cartoon. Ja, der treibt die absurde Zahnbehandlung ganz auf die Spitze.


Danke, lieber Erich.

Er ist sehend blind und die Binde eine Metapher dafür.


Euch liebe Grüße
g