Autor Thema: Grenzgänger  (Gelesen 1819 mal)

Mike S

Grenzgänger
« am: Dezember 21, 2009, 13:32:42 »
Grenzgänger

Anfangs schnitten andere ihre Lust in meinen Körper,
meißelten mit Gewalt ihre Wut in meine Haut.

Und meine Haut ziert seitdem der Schriftzug:

„Du bist nicht liebenswert.“

Dann wurde mein Fenster zum Leben zerschlagen
und meine Tränen liefen nach innen,

füllten einen Kelch, der immer schwerer wurde:

„Ich konnte ihn nicht halten.“

Der Schmerz ergoss sich über meine Narben,
das Wundwasser tat diese erneut auf:

„Für diese Schwäche hasste ich mich.“

Mein Körper widerte mich nunmehr an.
Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut:

„Und ich kämpfte gegen mich.“

Die anderen waren mir immer behilflich,
zerschlugen zusammen mit mir mein Urvertrauen:

„Ich habe sie nicht darum gebeten.“

Und in Moll spielen die Lieder.
Und in Moll wird das Lied spielen:

„Aus“

© Mike S
Dezember 2009
« Letzte Änderung: Dezember 21, 2009, 15:07:42 von Mike S »
Every step I take I walk alone (Tarja Turunen)

cyparis

Re:Grenzgänger
« Antwort #1 am: Dezember 21, 2009, 16:17:14 »
Lieber Mika S,


dies ist kein Gedicht, dies ist ein Aufschrei.

Wenn ich Dich nicht kränke:

Es erinnert mich an Trakl, dessen Schmerz jedoch aus anderen Bächen gespeist wurde.

Die erste zweizeilige Strophe macht schaudern, erzeugt Gänsehaut.
Und dann:
wird das eigene Urvertrauen zerstört - was bleibt?

Dennoch, dennoch:
Es bleibt das eigene Ich, das Wissen um die eigene Einmaligkeit, um die Unzerstörbarkeit der Kunst und des Geistes.
Es bleibt die Liebe zur Schönheit.

Es bleibt ein Weg, alte Schatten zu verlassen:
Verachtung.



Lieben und verstörten Gruß
von
cyparis

immer!
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

a.c.larin

  • Gast
Re:Grenzgänger
« Antwort #2 am: Januar 07, 2010, 15:28:14 »
hallo mike,

ich schließe mich den worten von cyparis an: der "grenzgänger"  verarbeitet ein trauma (wie wohl kunst ja immer verarbeitung ist. die themen dafür müssen aber nicht zwingend traumatisch sein)

große schwermut klingt aus den zeilen und zeichnen ein düsteres bild.
psychologisch nachvollziehbar : die gequälte kreatur verinnerlicht die taten des aggressors und beginnt, sich selbst zu quälen. insoferne ist die selbstzerstörung (fast) logische konsequenz.

der erste schritt in eine andere richtung wäre wohl der in richtung anklage des aggressors, doch dazu braucht es zumindest ein bewusstsein für den eigenen wert,
und der wird, bei gemindertem urvertrauen , oft gar nicht mehr gesehen.....

da geht der weg wohl geraume zeit an einer gefährlichen grenze entlang..... :(
das hast du glaubhaft vermittelt.

lg, larin