Autor Thema: WINTERBLUES  (Gelesen 759 mal)

Rocco

WINTERBLUES
« am: Januar 29, 2022, 23:14:45 »
der tag
ein finsterer
schwan

verspricht abhilfe

die nacht
ein finsterer
schwan

verspricht abhilfe
der tag
die nacht

abwechslung: eine vorhersehbare
wiederholung
« Letzte Änderung: Januar 30, 2022, 10:00:27 von Rocco »
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: WINTERBLUES
« Antwort #1 am: Januar 30, 2022, 12:08:03 »
Hi Roc!

Interessantes Wortspiel mit dem Begriff "Abwechslung"! Wir gebrauchen ihn ja meist im Sinne von positiver Veränderung, eine Genusssituation mitten im drögen Alltag. Du allerdings gründest deine auslegung auf dem wörtlichen Wortsinn: eine schlichte Abwechlsung gleichmaßen bedrückender Situationen, womöglich noch in geisttötendem Regelmaß, wie hier Tag und Nacht, beide dunkel und erdrückend empfunden.

Nach dem 2. "verspricht abhilfe" würde ich eine weitere Leerzeile einfügen vor "der tag//die nacht".

Das Werk atmet Depression, Ausweglosigkeit, Gefangenschaft in einem Rad der Konformität falscher Versprechungen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: WINTERBLUES
« Antwort #2 am: Januar 30, 2022, 21:39:10 »
Hallo Erich,

der Text war ursprünglich ein Aphorismus, war aber unzufrieden und habe experimentiert. Ist das Ergebnis überzeugend? Zumindest landet er bei dir nicht in der Tonne.

Dass Abwechslung dröge sein kann, hat schon Nietzsche gewusst. Bei ihm hieß das: Wiederkehr des Immergleichen.

Damit greife ich aber zu hoch, da ich nicht an Philosophie gedacht habe, eher an ein auswegloses Gefühl. Kennst du den Film: Und ewig grüsst das Murmeltier?

Da erlebt ein Typ den gleichen Tag immer wieder. Und das so lange, bis er sein Leben ändert. Eine Änderung brächte hier aber wenig. Denn es gibt nichts, was sich ändern könnte. Also doch Nietzsche?

Was dein Änderungsvorschlag betrifft: Ich hatte mir auch überlegt gehabt, ob ich eine Leerzeile setzen soll, dann hätten wir aber eine Pause. Das lyr. Ich erlebt aber keine Pause.

Zudem: das zweite Abhilfe bezieht sich auf die Nacht. Gleichzeitig spanne ich den Bogen zu Nacht und Tag. So kann ich dann zum Fazit überleiten. Ist das logisch?

Dir einen schönen Abend!

Rocco
« Letzte Änderung: Januar 30, 2022, 21:40:45 von Rocco »
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Sufnus

Re: WINTERBLUES
« Antwort #3 am: Februar 01, 2022, 10:13:06 »
der Text war ursprünglich ein Aphorismus, war aber unzufrieden und habe experimentiert. Ist das Ergebnis überzeugend?

Experiment geglückt! :) Sehr sogar! :)
Mir gefallen ganz besonders gut die strukturellen Wiederholungen im Gedicht - natürlich korrespondieren die schön mit dem mitgeteilten Inhalt der Täglich-grüßt-das-Murmeltier-Situation - aber vor allem schärfen die Wiederholungen den Blick für Verschiebungen in der Sprache die zu veränderten Aussagen führen. Das hängt damit zusammen, dass Du in diesem Gedicht auf Zeichensetzung verzichtest, was hier zu einer überaus überzeugenden Multiperspektive führt.

Man kann das Gedicht z. B. folgendermaßen (vor)lesen (ich zitiere mal nur den Anfang, um hier etwas Platz zu sparen und setze unterschiedliche Satzzeichen ein, um den Vortrag zu "simulieren"):

Der Tag: Ein finsterer Schwan verspricht Abhilfe.
Die Nacht: Ein finsterer Schwan verspricht Abhilfe.

Oder auch so:

Der Tag: Ein finsterer Schwan.
Verspricht Abhilfe die Nacht?
Ein finsterer Schwan verspricht Abhilfe.

Es macht Spaß diese verschiedenen Lesarten durchzudeklinieren und hierbei über Zeilen und Strophengrenzen hin- und her zu springen. Das Ergebnis ist eine Erweiterung des Blickwinkels, ein Verlassen gewohnter Denkbahnen. Besseres kann man über ein Gedicht kaum sagen.

Interessant ist hierbei übrigens auch der "Finstere Schwan". :)
Schwäne sind weiß. So dachte man bis ins 18. Jahrhundert. Dann wurde in Australien eine schwarze Schwanen-Art entdeckt, der Trauerschwan.
Der "schwarze Schwan" ist seither als Metapher in die Sphäre der Erkenntnistheorie und der Risikoanalyse eingegangen. Erkenntnistheoretisch ist es so, dass die empirisch beobachtbaren Fakten niemals hinreichen, um eine absolute Theorie "endgültig" zu beweisen.
Auch wenn viele Jahrtausende lang Menschen in Europa die Beobachtung gemacht haben, immer und immer wieder, dass Schwäne weiß sind, genügt doch ein einziges Exemplar eines schwarzen Schwans, welches ein Kapitän von seiner Fahrt ans andere Ende der Welt mit nachhause gebracht hat, um die These: "Alle Schwäne sind weiß!" endgültig zu beerdigen.
In der Risikoanalyse bezeichnet man mit dem "schwarzen Schwan" ein unvorhersagbares Ereignis mit besonders schwerwiegenden Auswirkungen, dass die bisherigen Szenarien zur Risikoabwehr ad absurdum führt. Auf dem Potsdamer Platz bricht ein Vulkan aus oder in Castrop-Rauxel wird Josus, der böse Bruder von Jesus, geboren oder einem nordkoreanischen Wissenschaftler gelingt es tatsächlich, den tödlichen Witz zu erfinden. Der schwarze Schwan ist also das Gegenteil von Abwechslung (und Sicherheit).
Mithin scheint es sich bei dem finsteren Schwan in Deinem Gedicht eigentlich um einen weißen Schwan zu handeln - der schwarze Schwan wird vom LI noch sehnlichst erwartet, lebt jedoch noch unentdeckt in Australien.

LG!

S.

P.S.:
"eine vorhersehbare" würd ich übrigens am Schluss eher streichen.
Für mich würde das Gedicht noch "schärfer" und "knackiger" einfach so enden:

...

verspricht abhilfe
der tag
die nacht

abwechslung
wiederholung
« Letzte Änderung: Februar 03, 2022, 12:28:00 von Sufnus »