Autor Thema: Mein Bett  (Gelesen 1142 mal)

gummibaum

Mein Bett
« am: Januar 29, 2022, 12:22:23 »
Mein Bett aus Holz war einst ein Baum,
und manchmal spricht es nachts im Traum,
und lieg ich wach, um ihm zu lauschen,
so hör ich plötzlich Blätter rauschen

und fühle, wie der Wind mich wiegt,
und meinen Stamm zum Nächsten biegt,
wie unsre Kronen sich durchdringen
und Vögel in den Zweigen singen.

Dann ist der Wald aus tiefer Nacht
um mich zum hellsten Tag erwacht,
Die Luft ist lau, die Erde funkelt,
doch seltsam wird sie nun verdunkelt:

Es kreischt an meinem Stamm, es brennt,
weil eine Säge ihn durchtrennt,
ich schwanke, falle, große Räume
verwandeln sich in Fieberträume.

Nun lieg ich hier. Ist es noch Wald? -
Mir wird in meinem Zimmer kalt 
im warmen Bett, und seine Kissen
belagern fragend mein Gewissen…

Erich Kykal

Re: Mein Bett
« Antwort #1 am: Januar 30, 2022, 11:51:40 »
Hi Gum!

Würdiges Gedicht zum Raubbau an der Natur. Bei uns wird Forstwirtschaft mittlerweile nachhaltig betrieben, aber in vielen armen Staaten und Schwellenländern ist das noch nicht so. Da fehlen die Gesetze oder deren Überwachung, da lockt das schnelle und leichte Geld - siehe die ehemaligen Ostblockstaaten oder Russland, wo selbst Naturschutzgebiete heimlich gerodet werden.
Auch in den USA fehlt bislang weitgehend das Bewusstsein um Nachhaltigkeit und naturbewahrendes Wirtschaften - sie haben einfach so endlos riesige Wälder, dass der rücksichtslose Kahlschlag kaum auffällt. Bewusst aufgeforstet und nachgepflanzt wird dort nichts, weder von staatlicher Seite noch von den Holzfirmen.

Bei uns hat sich zum Glück das Naturbewusstsein durchgesetzt! Vorbei die Zeit der lebensleeren Monokulturen, die endlosen langweiligen Fichtenwälder, die kaum ein Ökosystem erhalten können, anfällig sind für Krankheit und Schädlinge. Die wurden damals bewusst so gepflanzt, um möglichst raschen und hohen Holzgewinn zu erzielen, weiter nichts. Natur war das keine.
Ich kann mich erinnern, als ich als kleiner Kindergartenjunge mit meinen Eltern im Mühlviertel "Schwammerlsuchen" war, und wie froh mein Auge war, wenn der finstere, dunkle Fichtenhochwald mal von hellgrünem Laubbewuchs mit dichtem Unterholz abgelöst wurde, mit Moos, Gras, usw.. - in den Monokulturwäldern, vor allem in den jüngeren, wo die Zweige noch bis zum Boden reichten, auch wen sie abgestorben waren, gab es nur nackte Erde mit toten Nadeln drauf!
Solche Inseln natürlichen Waldes gab es damals nur an besonders unwegsamen, steilen oder felsigen Stellen, wo eine Bewirtschaftung offenbar nicht lohnte. Magische kleine Feen-Lichtungen oder Laubwädchen mitten im finsteren, verwunschenen Rauschewald ...

S2Z2 - "und meinen Stamm zum nächsten biegt" - das "nächsten" würde ich hier klein schreiben, da es sich hier nicht um ein eigenständiges Objekt im Dativ handelt, sondern vielmehr um die Weglassung eines sich wiederholenden Nomens: "Stamm". Das "nächsten" steht hier also in der Funktion eines Adjektivs mit Bezug auf das - nicht wiederholte - Objekt im 4. Fall "Stamm".

S2Z3 - Hier würde ich ans Zeilenende ein Komma setzen. Es geht zwar mit "und" weiter, aber es handelt sich um einen eigenen Satzteil.


Sehr gern gelesen! Ich bin zwar nicht so empathisch (schon gar nicht einem Werkstoff gegenüber, der schon im lebenden Baum tote Materie war), dass ich wegen eines gefällten Baumes Albträume bekäme, aber wichtig ist der Gedanke an sich durchaus, betrachtet man die weltweite Rücksichtslosigkeit kurzsichtiger Profiteure!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Mein Bett
« Antwort #2 am: Januar 30, 2022, 16:20:44 »
Lieber Erich,

danke für die guten Gedanken zum Raubbau an der Natur und für die mitgeteilten Erinnerungen ans Schwammerlsuchen.

Nach den heißen Sommern mit Fichtensterben wurden hier viele Waldbezirke maschinell abgeholzt. Die Stämme liegen auf 4 m Länge gesägt, gestalpelt und nummeriert zum Trocknen am Wegrand. Das war der Auslöser für das Gedicht.

Der Nächste wie in "liebe deinen Nächsten" ist gemeint.

Liebe Grüße von gummibaum



 
« Letzte Änderung: Januar 30, 2022, 16:24:12 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Mein Bett
« Antwort #3 am: Januar 31, 2022, 17:44:20 »
Hi Gum!

Zum "Nächsten" - schon klar, aber so wie du den Satz konstruiert hast, liegt meine Lesart wesentlich näher: "von einem Stamm zum nächsten" ist in diesem Sprachzusammenhang viel logischer, als den etwas biblisch klingenden "Nächsten" als Mitmenschen zu interpretieren.

Auch der Sinnzusammenhang im Satz spricht für die Deutung, dass sich ein Stamm zum nächsten (Stamm) biegt, wenn sie vom Wind gewiegt werden.

Oder meinst du, der Stamm wäre hier personifiziert und betrachte den Nachbarstamm als seinen - ebenfalls personifizierten - Nächsten? Sorry, aber das ist mir wirklich zu weit hergeholt, um hier als Bild zu funktionieren ... - vor allem, weil das LyrIch ja der Schläfer in besagtem Bett ist, und nicht der Baum, dar es mal war.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Mein Bett
« Antwort #4 am: Januar 31, 2022, 21:16:43 »
Lieber Erich,
vielleicht ändere ich das noch. Du hast das Gedicht sicher richtig verstanden:

In den ersten und letzten drei Versen ist das LI der Mensch im Bett, dazwischen der Baum, aus dem das Bett hervorging, aber noch mit menschlicher Wahrnehmung und Sensibilität.

Danke und LG von gummibaum

Sufnus

Re: Mein Bett
« Antwort #5 am: Februar 01, 2022, 10:30:55 »
Hi gum!
In Deinen Gedichten findet sich häufig mehr als nur ein Echo von Ovids Metamorphosen. Sehr häufig geht es in Deinen Zeilen um eine Vewandlung. Und es ist jedes träumenden Menschen Wahrnehmung, dass die Zeit der Verwandlung (durchaus auch in ihrer bedrohlichen Form) die Nacht ist. Es wird berichtet, ein besonders bedauernswerter Mensch habe sich einmal über Nacht in einen ungeheuren Käfer verwandelt. In Deinem Gedicht wurde nun das LI in ein Bett verwandelt und muss das Trauma der Entwurzelung neu durchleben.
In diesem Geist der Entwurzelung, dem Verlust der Waldgemeinschaft, erscheint mir die Schreibweise "zum Nächsten" als völlig stimmig und die konventionellere Redewendung im Sinne von "zum nächsten Stamm" wäre demgegenüber für mich weitaus uninteressanter. Im mündlichen Vortrag würde ich es zugegebenermaßen auch "kleingeschrieben hören", umso größer wäre dann die Erfreunis, wenn ich bei der Lektüre bemerkte, dass hier anders gedacht und gefühlt wurde. :)
Sehr schöne Zeilen!!! Chapeau! :)
LG!
S.

gummibaum

Re: Mein Bett
« Antwort #6 am: Februar 03, 2022, 12:32:57 »
Danke, lieber Sufnus,

für dein Lob, den sehr umsichtigen Kommentar, die Erwähnung von Kafkas Käfer usw. 
Ja, Nacht, Traum und Metamorphose mache ich immer wieder mal zum Thema, Entgrenzungen, Übergänge und größere Einheiten interessieren mich.
 
Wir ziehen gewöhnlich Grenzen und bilden Gegensätze, weil unser Gehirn auf dieser Grundlage seine Welt am leichtesten konstruiert und bilden dann auch unsere Gemeinschaften durch Ausgrenzung. Aber muss das so sein?

Wir haben begonnen, den Unterschied der Geschlechter zu nivellieren und  mehr als zwei Geschlechter ohne Abwertung gelten zu lassen. Wir stellen den Gegensatz von Hochkultur und Barbarei infrage. Wir finden bei Tieren und sogar bei Pflanzen eine Art Empathie (ein Verlassen eigener Grenzen). Und so bilden vielleicht auch Leben und Tod keinen schroffen Gegensatz, und es gibt Erinnerungen, die aus dem eigenen Leben herausführen.

Liebe Grüße von gummibaum