Autor Thema: Wechsel des Verstecks  (Gelesen 559 mal)

gummibaum

Wechsel des Verstecks
« am: Januar 17, 2022, 03:41:55 »
Die letzte Nacht in feuchter Todeszelle.
Am Morgen vor der Mündung an der Wand.
Wir sterben schon vor Angst, und der Verstand
erstickt das Denken wie in dunkler Welle.

Ich höre einen der Gefährten beten,
es stinkt nach kaltem Schweiß und nach Urin.
Dann Stiefel, und mein Name wird geschrien.
Ich werde in den Hof hinaus getreten.

Sie wollen mich ein letztes Mal verhören:
„Wo hält sich euer Kommandant versteckt?“
Ich lüge unbeirrt und wohl bezweckt.           

Doch seltsam ist, dass sie sich nicht empören.
Entlassen hör ich später Zeugen schwören:
„Sie haben ihn tatsächlich dort entdeckt…“


Sufnus

Re: Wechsel des Verstecks
« Antwort #1 am: Januar 17, 2022, 11:49:44 »
Lieber gum,

ein Sonett über einen zum Tode Verurteilten - man kann das im Deutschen nicht lesen, ohne voller Beklemmung an Albrecht Haushofers Moabiter Sonette zu denken. Du fügst dem erschütternden Bild des Widerstandskämpfers, der sich einer totalitären Maschinerie gegenübersieht, eine absurde Wendung hinzu, indem der Rebell durch einen grausamen Zufall zum Erfüllungsgehilfen des Unrechts wird.

Ich musste hier an einen Roman denken, der in einer ganz anderen Zeit spielt (im Spanien der napoleonischen Kriege) und in dem die Rollen von Gut und Böse völlig verwischt sind, der aber dieses Element der Zufallsabsurditäten mit dem Schicksals-Konzept einer griechischen Tragödie kreuzt: Der Marques de Bolibar von Leo Perutz (Hanser Verlag). Mal eine Literaturempfehlung abseits der Lyrik. :)

LG!

S.

gummibaum

Re: Wechsel des Verstecks
« Antwort #2 am: Januar 17, 2022, 16:23:30 »
Danke, lieber Sufnus.

Ich freue mich, dass du alles so verstanden hast, wie ich es meinte und werde das empfohlene Buch bestellen.

Danke auch für den Hinweis auf die Moabiter Sonette:  https://www.deutschelyrik.de/moabiter-sonette.html

Liebe Grüße von gummibaum
« Letzte Änderung: Januar 17, 2022, 21:51:23 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Wechsel des Verstecks
« Antwort #3 am: Januar 17, 2022, 18:22:10 »
Hi Gum!

Uups - das fällt dann wohl unter die Rubrik "Wirklich extrem blöd gelaufen!"

Na, zumindest muss sich der Freigelassene keine moralischen Vorwürfe machen, außer vielleicht, dass er dumm genug war, überhaupt einen Ort anzugeben. Aber wenn das eigene Lebensende nur noch eine Kugel weit entfernt ist, tut man doch alles nur Mögliche, um das Unvermeidliche so lange hinauszuzögern, wie's nur irgend geht. Also erscheint einen zumindest theoretisch "möglichen" Ort zu nennen, der erst mal überprüft werden muss, zumindest in so einer Lage als durchaus probates Mittel zur Existenzverlängerung.

Dass der Kommandant sich dann rein zufällig tatsächlich dort verbarg, dafür kann die arme Sau vor dem Erschießungskommando nun wirklich nichts.

Allerdings wird er unter den eigenen Kollegen fürderhin ordentlich zu tun haben, um nicht als "williger Veräter" dazustehen - und dann von jenen hingerichtet zu werden! Zumindest ein Schatten des Zweifels wird ihm wohl nicht erspart bleiben, selbst wenn man ihm glauben sollte. Solch arme Kerle haben die leidige Tendenz, beim nächsten Sturmlauf oder der nächstfolgenden Selbstmordmission in vorderster Reihe zu stehen ...

Gern gelesen!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Wechsel des Verstecks
« Antwort #4 am: Januar 17, 2022, 21:01:34 »
Danke, lieber Erich, für den guten Kommentar.

Ja, dumm gelaufen. Ist ein bisschen inspiriert durch Sartres "Le mur". Dort bekommt der Unglücksrabe am Ende einen nervösen Lachanfall.

https://www.youtube.com/watch?v=uOxehREYiqw

Grüße von gummibaum