Autor Thema: Alt und weise  (Gelesen 566 mal)

Erich Kykal

Alt und weise
« am: Januar 15, 2022, 23:08:18 »
Wer wird noch von uns berichten
in erbetenen Geschichten,
wenn ich alt und weise bin?
Sehe ich dann noch in diesen
worterrichteten Verliesen
wahres Abbild oder Sinn?

Wer wird alte Lieder singen,
etwas von uns wiederbringen,
wenn ich alt und weise bin?
Und erkenne ich die Narren,
die wir all die Tage waren,
noch gelegentlich darin?

Wer wird von Erinnerungen
an das unsre noch durchdrungen,
wenn ich alt und weise bin?
Wen ermächtigt, reich an Jahren,
hoch beladen und erfahren,
unser Streben nach Gewinn?

Ach, wie rasch bin ich vergessen,
all mein Ringen, mein Ermessen,
wenn ich alt und weise bin.
Weiter dreht sich diese Erde,
unser aller Wohl und Werde
wird - und lebt - und ist dahin.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Alt und weise
« Antwort #1 am: Januar 16, 2022, 15:55:15 »
Lieber Erich,

eine schöne Reflexion über Vergessen, Verfälschung und Vergänglichkeit der heutigen persönlichen kulturellen Beiträge. Ja, schon zu Lebzeiten ("wenn ich alt und weise bin") kan man seine Spuren im Gedächtnis der anderen meist nicht mehr finden.

Mit Trauer, Freude und Genuss gelesen.
Grüße von gummibaum
 


Erich Kykal

Re: Alt und weise
« Antwort #2 am: Januar 16, 2022, 19:44:14 »
Hi Gum!

Danke für die ermunternden Worte!  :)

Auslöser für dieses Gedicht war das Lied "Old and wise" von Alan Parson's Project. Ein sehr lyrischer Text!

LG, eKy
« Letzte Änderung: Januar 17, 2022, 18:22:31 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Alt und weise
« Antwort #3 am: Januar 17, 2022, 13:13:47 »
Hi eky!

Den Text von Alan Parsons Project kenne ich nicht - ist Dein schöner Text eine Art Übersetzung oder (freie) Übertragung? Oder war der Songtext "nur" ein Impuls für Dein Gedicht? :)

Auf alle Fälle gefallen mir die Zeilen sehr gut - elegisch aber auch irgendwie tiefenentspannt. :)

Nur ein klitzekleiner Einwand: Bei der ersten Zeile folgen fünf einsilbige Wörter auf einander, bis ganz am Ende ein mehrsilbiges Wort steht. Da einsilbige Wörter dem Leser wenig Betonungshinweise bieten, muss man den vierhebigen Trochäus vom letzten Wort rückwärts rekonstruieren und daher im Zweifelsfall nochmal neu ansetzen. Bis das letzte Wörtchen die Auflösung bringt, ließe sich das Satzfragment "wer wird noch von uns" auch Jambisch oder sogar daktylisch mit einem unbetonten Auftakt lesen - je nach Satzabschluss oder weiterem Duktus der folgenden Zeilen.

Vgl. z. B. welche Betonungen sich ergeben würden bei:

Wer wird noch von uns singen,
wenn wir vergangen sind?

xXxXxXx
xXxXxX


Wer wird noch von uns einst berichten,
verkündet die alten Geschichten,
wenn wir längst Vergangenheit sind?

xXxxXxxXx
xXxxXxxXx
xXxxXxxX

Im Prinzip bin ich als Kritiker von mehrdeutigen Metren einigermaßen fehlbesetzt, weil ich das selbst ja sehr gerne praktiziere ;) - aber ich weiß ja mittlerweile, dass Du in Deinen Texten nach Klarheit und Eindeutigkeit strebst, den Leser quasi nicht sich selbst überlassen willst und gemessen an diesem Anspruch, könntest Du wohl die Bestimmtheit des Metrums in Zeile 1 etwas fester fügen. :)

LG!

S.

Erich Kykal

Re: Alt und weise
« Antwort #4 am: Januar 17, 2022, 18:28:58 »
Hi Suf!

Wer wird noch von uns berichten
in erbetenen Geschichten,
wenn ich alt und weise bin?

XxXxXxXx
XxXxXxXx
XxXxXxX


Diesem Schema folgen alle Strophen. Liest man es wie hier demonstriert, ergibt sich ein klarer, sauberer Takt.

Dass da jemand womöglich neu ansetzen muss, weil er anders getaktet hat (xXxxXxXx), nehme ich hier in Kauf, da es eh die erste Zeile ist und der Leser nicht viel umsonst zu lesen hat.
Aber an sich gebe ich dir recht - wenn irgend möglich, konstruiere ich den Einstieg so, dass sich der korrekte Rhythmus wie von selbst ergibt, praktisch sprachlich zwingend erfolgt. Denn das neu Ansetzen ist wirklich lästig, vor allem, wenn offenkundig vermeidbar.

Vielen Dank für deine Gedanken!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.