Autor Thema: Im Maiwald  (Gelesen 843 mal)

gummibaum

Im Maiwald
« am: Mai 16, 2021, 17:43:39 »
Im Mai rief man mich bleich ins Haus:
Ich dürfte nicht im Walde wandern,
die Bäume, hieß es, schlügen aus.
Doch hörte ich nicht auf die andern.

Ich wollte unter Bäumen sein.
Ihr Grünen gab dem welken Manne
das Harz der Lust, die Liebespein.
Ich duftete nach Edeltanne.

Und kaum, dass ich den Wald betrat,
besänftigte ich so die Tritte
der wilden Wurzeln, und man bat
mich selig in der Lichtung Mitte.

Da stand ich, eingekreist vom Grün
der hohen Pappeln, Buchen, Linden.           
Ich sah die Eiche, stark und kühn,
als erste ihre Worte finden:

„Verströmst du, Tanne, diesen Duft,
so mag ich schwebend mit dir tanzen:
in eines Maien linde Luft
den Schwung der ersten Liebe pflanzen.“

Ich nickte froh und ward umfasst:
an Schulter, Rücken, Taille, Hüfte
umschlang mich Blatt und Zweig und Ast
und hob mich kreisend in die Lüfte.

Nun war der Ahorn auch so weit,
und näherte sich einer Erle.
Schon schimmerte ihr Blätterkleid,
verwebt im Tanz, wie eine Perle.

Da drehten alle Paare sich,
und Partner tauschten leicht die Plätze,
die tollsten schmiegten sich an mich
und hauchten wundervolle Sätze.

Die Luft hob sich zum Wirbelsturm,
und als ich spät ins Dorf gelangte,
war jede Scheune, jeder Turm
und jedes Haus gedreht und schwankte…   
« Letzte Änderung: Mai 17, 2021, 11:39:18 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Im Maiwald
« Antwort #1 am: Mai 16, 2021, 22:25:23 »
Hi Gum!

S5Z3 - heißt es nicht eher "in eines Maiens"? Oder besser: "Maitags"?

S6Z2 - hat nur drei Heber.

Ein toller, humorig augenzwinkernder quirliger Frühlingstanz im - und mit dem Grünen!  ;D
Und ein - für deine Verhältnisse - unglaublich langes Gedicht! Chapeau!

Detail: Bei uns wachsen Pappeln nicht in Wäldern, nur in gepflanzten Alleen am Wegesrand. Sind sie bei euch verbreiteter?

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy

Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Im Maiwald
« Antwort #2 am: Mai 17, 2021, 12:00:19 »
Lieber Erich,

vielen Dank für deinen schönen Kommentar. Ich habe die beiden Schnitzer korrigiert. Mit dem Standort der Pappeln ist es hier ähnlich, aber vereinzelt stehen sie im/am Wald. Ein paar längere Gedichte habe schon geschrieben, z. B. bei der Nacherzählung bekannter Märchen, Sagen und Balladen. Aber die allermeisten sind kurz und bündig.

Im übrigen bin ich sehr froh, dass du hier weiterhin schreibst, kommentierst, korrigierst und Anregungen gibst.

Liebe Grüße von gummibaum
« Letzte Änderung: Mai 18, 2021, 18:49:08 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Im Maiwald
« Antwort #3 am: Mai 18, 2021, 17:09:30 »
Hi Gum!

Ab und zu schreibe ich ja durchaus auch noch selbst ein Gedicht ...  ;)

Mit deiner neuen Version "Maien" bin ich übrigens auch nicht glücklich. M.E. sollte es "Maiens" heißen, ist ja ein Genitiv.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Im Maiwald
« Antwort #4 am: Mai 18, 2021, 18:35:59 »
Lieber Erich,

das meinte ich mit "weiterhin schreibst".

Wegen Mai hab ich jetzt mal nachgeschaut. Der Duden (https://www.duden.de/rechtschreibung/Mai) sagt:

"der Mai; Genitiv: des Mai[e]s und Mai, dichterisch auch noch: Maien, Plural: die Maie (Plural selten)"


Das heißt, meine ursprüngliche Form "Maies" war richtig. Wenn die dichterische Form "Maien" gewählt wird, muss im Genitiv eventuell ein s angehängt werden, vielleicht ist es aber wie bei "des Jungen" nicht erforderlich. Kennst du einen Text, in dem "des Maiens" steht?

LG g 
 



« Letzte Änderung: Mai 18, 2021, 18:52:53 von gummibaum »

Sufnus

Re: Im Maiwald
« Antwort #5 am: Mai 18, 2021, 21:38:44 »
Hi gum!!! :)

Ein Frühlings- und Wald-Gedicht.

Man erwartet entweder naturverklärenden Lobpreis einer heilen Welt fernab der unbehausten Urbanität oder aber dystopische Kassandraklänge, die vor der Naturzerstörung durch die wuchernde Zivilisation warnen. Es kommt hier aber alles etwas anders und das ist die besondere Stärke dieser Zeilen, die für mich zum Besten gehören, was seit langem hier zu lesen war! Große Begeisterung!

Für den modernen Menschen unserer Breiten ist der Wald zumeist ein romantisch verklärter Sehnsuchtsort, in dem - zumal zur schönen Frühjahrszeit - wohl schlimmstenfalls ein Heuschnupfen droht. Abgesehen von dieser denkbaren Anfechtung aber ist hier die Welt noch in Ordnung: Auf ins Grüne also - der Wald ruft!

In der alten Zeit war das nicht so. Der Wald war  ein gefährlicher Ort - Rückzugsgebiet für die alten Spitzenprädatoren, Braunbär und Wolf, die in der Kulturlandschaft ihren angestammten Platz an das zweibeinige Raubtier längst verloren hatten, im Dickicht der Wälder aber noch eine Ahnung ihrer ehemaligen Herrschaft ausübten. Auch menschliches Gesindel mag sich in den Wäldern getummelt haben, die Ausgestoßenen der Städte, die im Schatten der Baumkronen ihren Hass auf die Herrschenden pflegten. Die Jahrhunderte, in denen der Wald ein Angst-Ort war, haben ihre Spuren in den alten Erzählungen noch überdeutlich aufbewahrt - nur liest diese Geschichten aus einer anderen Zeit heute keiner mehr.

Der Gott des Waldes war Pan, um seinen Hals baumelte die nach ihm benannte Flöte, Trophäe einer Vergewaltigung der Nymphe Syrinx. Pan, dieser wild-dämonische Gott, verbreitete Angst und Schrecken unter den Menschen: die Angst vor dem Wald. Noch heute reden wir, so wurde die Erinnerung in der Sprache bewahrt von der pan-ischen Angst.

Die namenlosen Mitmenschen des lyrischen Ichs in gums wunderlichem und wunderbarem Gedicht haben sich offenbar die alte Furcht vor dem Wald bewahrt - auch wenn die Warnung, die Bäume schlügen aus, einen Schwenk ins Humoristische nimmt, typisches Kennzeichen der augenzwinkernden und doch zugleich tiefernst empfundenen Lyrik von gum. Zu unser aller Glück schert sich das lyrische Ich nicht um den wohlmeinenden Rat der Dörfler und erlebt so ein gar merkwürdiges Abenteuer. Durch Baumharz als Waldgeist getarnt, wird das lyrische Ich zum Mittelpunkt eines beseelten Tanzes der Baumgeister. Hamadryaden wurden sie von den Alten genannt - in den Ents von Tolkien begegnen sie uns in einer Erzählstimme des 20. Jh. wieder.

Bei diesem stürmischen Baumreigen muss man wohl unwillkürlich an das Gedicht von Gottfried Keller denken:

[...]

Fern am Rande fing ein junges Bäumchen an sich sacht zu wiegen,
und dann ging es immer weiter an ein Sausen, an ein Biegen;

kam es her in mächt'gem Zuge, schwoll es an zu breiten Wogen,
hoch sich durch die Wipfel wälzend kam die Sturmesflut gezogen.

Und nun sang und pfiff es graulich in den Kronen, in den Lüften,
und dazwischen knarrt' und dröhnt' es unten in den Wurzelgrüften.

Manchmal schwang die höchste Eiche gellend ihren Schaft alleine,
donnernder erscholl nur immer drauf der Chor vom ganzen Haine!

Einer wilden Meeresbrandung hat das schöne Spiel geglichen;
alles Laub war weißlich schimmernd nach Nordosten hingestrichen.

Also streicht die alte Geige Pan der Alte laut und leise,
unterrichtend seine Wälder in der alten Weltenweise.

[...]


Die Ahnung der Gefahr, die vom Wald ausgeht, wird aber erst in der letzten Strophe offenbar. Der Erzähler kehrt aus dem Walde heim und findet sein Dorf zerstört. Nach der Erfahrung der Naturgewalt im Walde steht die bürgerliche Welt im wahrsten Sinne Kopf ("jedes Haus gedreht").

Doch auch in diesem Bild, das weniger inspirierten Schreibern zu einem platten Apokayptus gerönne, ist der Schrecken zivilisiert. Wir wandern mit dem lyrischen Ich in kindlichem Staunen durch die verwandelte Siedlung und sie nimmt sich nicht aus, wie ein zerstörtes Gemeinwesen, eher wohnt der Szenerie etwas magisch Verwandeltes inne. Ein avantgardistischer moderner Maler hätte die Häuser vielleicht so gemalt, multiperspektivisch, schwankend und ver-rückt im Wortsinne.

Ein Frühlings- und Waldgedicht der anderen Art. Der besten Art! :)

Begeisterte, ja hingerissene Grüße!

S.

gummibaum

Re: Im Maiwald
« Antwort #6 am: Mai 19, 2021, 18:06:35 »
Lieber Sufnus,

wieder ein exorbitanter Kommentar von dir. Für mich wegen der Vielzahl der Aspekte sehr interessant. Außerdem ein Genuss durch die Exaktheit und teilweise lyrische Qualität der Sprache.

Danke und liebe Grüße von gummibaum 

 

Sufnus

Re: Im Maiwald
« Antwort #7 am: Mai 19, 2021, 20:44:09 »
Mein lieber gum!
Der Dank gebührt Dir für Dein wunderbares Gedicht! Der Lesegenuss hallt in mir immer noch nach! :)
LG!
S.