Autor Thema: Der Raum in dir  (Gelesen 2336 mal)

Erich Kykal

Der Raum in dir
« am: Februar 09, 2021, 12:13:32 »
Wenn ich aus dem Fenster blicke
in die Welt, die dort geschieht,
die im Wirbel der Geschicke
fern an mir vorüberzieht,
der ich in der Stille wohne,
wird mir seltsam schwer zumut,
und die Seele, die ich schone,
weil sie glaubt, die Welt sei gut,
sehnt sich seltsam nach der Ferne,
die sich weit und unerklärt
vom Gesims bis an die Sterne
weiterdenkt und neu erfährt.

Es mag sein, dass ich versäume,
was da draußen euch geschieht,
die ihr durch die bunten Räume
einer großen Erde zieht,
doch ich ahne, dass die Bilder,
die das Abenteuer schenkt,
anders nicht sind als was milder
mir die schweren Lider senkt,
wenn ich ganz mir selbst gehöre
im Bereich, der mir gehört,
und, was draußen ich verlöre,
meiner Seligkeit verschwört:

Jenes Wissen, das mich rundet,
seit ich lebe wie im Traum:
Alle Welt, von dir erkundet,
die dich heilt, wenn du verwundet
innehältst an ihrem Saum,
alle Vielfalt, die dir mundet,
findet sich in einem Raum.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Der Raum in dir
« Antwort #1 am: Februar 09, 2021, 14:13:41 »
Hallo Erich,

Einsamkeit ist eine Geschmacksfrage, darüber kann man nicht streiten. Aber zu sagen: die Welt im Kleinen spiegle nur die Welt im Großen und man könne auf sie verzichten, das klingt dann nicht arg viel anders, als das, was Nietzsche gesagt hat.

Ich sehe, dass deine Gedanken eine bestimmte Richtung einschlagen und ich hoffe, das es keine Sackgasse ist.

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Der Raum in dir
« Antwort #2 am: Februar 09, 2021, 16:45:22 »
Hi Rocco!

Wenn es eine Sackgasse ist, dann ist es der Sack, in dem ich seit meiner Jugend wohne - seit bald 40 Jahren - und ich lebe noch. Kann also sooo unerträglich nicht sein. Ich lebe seit meiner Schulzeit im Grunde wie alle anderen erst jetzt in der Coronakrise, deshalb war es auch für mich keine Umstellung oder Einschränkung, im Lockdown zu leben. Es ist, was ich gewohnt bin.

Ich zitiere Andre Heller: "Die wahren Abenteuer sind im Kopf! Und sind sie nicht in deinem Kopf, dann sind sie nirgendwo."

Die Buddhisten wiederum meinen, die ganze Welt sei eine Illusion, die uns an Leid und Materie kettet, in einem endlosen Zyklus von Wiedergeburt und Schuld.

Ich habe mich früher zeitweise durchaus ausprobiert in der Welt! Ich war fast 20 Jahre wochenends als Rocker unterwegs in der österreichischen Szene, hab ein paar Reisen gemacht, Menschen kennengelernt. Aber nichts ist von Dauer. was letztenendes bleibt, ist die Welt in meinem Kopf, gebaut aus meinen Erfahrungen, meinem Reifen, und meinem Versagen. Auch das gehört dazu.

Das Gedicht rät nicht zu Abkehr von der Welt, es sagt nur aus, dass der Autor seine Innenwelt als für sich akzeptable Alternative entdeckt hat. Vielleicht auch als Ergänzung, zumindest aber als Rettungsinsel.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Der Raum in dir
« Antwort #3 am: Februar 10, 2021, 13:57:48 »
Hallo Erich,


ein sehr interessantes Thema von Dir wie gewohnt gut umgesetzt. Es gibt ja die berühmten isolierten Persönlichkeiten, von denen Kaspar Hauser eine der bekanntesten ist. Für mich bedeuten ihre Beispiele, ohne ein Leben "draußen", in Gemeinschaften, in Erfahrungsräumen, gibt es nichts oder zumindest viel zu wenig, was im Kopf bewahrt und in der selbst gewählten Klausur dann Sinn stiften könnte.
Aber ich unterstelle diesen Irrtum jedoch Deinem Gedicht nicht, sondern das LyrIch beschreibt einen Zustand der positiv bewerteten Zurückgezogenheit   n a c h reichlichen "Draußen-Erfahrungen".

Über die folgende Zeile
"anders nicht sind als was milder"
komme ich metrisch etwas ins Stolpern. Du weißt ja, dass ich nicht zu denen gehöre, die ein gleichmäßiges Metrum einfordern. Aber bei Deinen Gedichten gehört dieses Stilmittel ja zur Kunstfertigkeit. Ich mag jetzt keine Xx-Übung produzieren. Betone ich da falsch (ich lese so etwas immer laut). Falls es tatsächlich eine Abweichung vom Rhythmus der übrigen Zeilen gibt, hat er vielleicht einen künstlerischen Grund?

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

hans beislschmidt

Re: Der Raum in dir
« Antwort #4 am: Februar 10, 2021, 14:54:51 »
Lieber Erich,
Zitat
  anders nicht sind als was milder 
Aua ... da hast du dich sicher verschrieben.
André Heller ja ... so kann jeder Ort die absolute Potentialität aller Dinge bedeuten. Ein aristotelischer Entwurf, den die Scholastiker weiter verfolgt haben.
Die Aussage kann ich nachvollziehen, wenn auch der Altherrenduktus (mundet) eine unnötige Schwülstigkeit
verbreitet.
Gern gelesen. Gruß vom Hans
« Letzte Änderung: Februar 10, 2021, 14:56:31 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Erich Kykal

Re: Der Raum in dir
« Antwort #5 am: Februar 10, 2021, 16:10:40 »
Hi AL, Hans!

Der Satz ist völlig korrekt formuliert (bitte immer den ganzen Satz lesen!), und das Metrum fügt sich ebenfalls nahtlos ein:

doch ich ahne, dass die Bilder,
die das Abenteuer schenkt,
anders nicht sind als was milder
mir die schweren Lider senkt,

XxXxXxXx
XxXxXxX
XxXxXxXx
XxXxXxX


LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

hans beislschmidt

Re: Der Raum in dir
« Antwort #6 am: Februar 10, 2021, 16:22:18 »
Für mich muss es so klingen ...
nicht anders sind als was milder ..
Aber bitte ... Du bist der Metrumflüsterer.
Gruß vom Hans
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Erich Kykal

Re: Der Raum in dir
« Antwort #7 am: Februar 10, 2021, 16:43:12 »
Hi Hans!

Das Gedicht hat betonten Auftakt. Deine Zeilenversion hat unbetonten Auftakt. Die Inversion "anders nicht" ist aus metrischen Gründen notwendig und lyrisch statthaft.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

hans beislschmidt

Re: Der Raum in dir
« Antwort #8 am: Februar 10, 2021, 16:51:28 »
Hab ich mir gedacht, dass du den Trochäus deswegen reinwürgst. Für mich ein Beweis, dass metrisch nicht immer organisch ist. Gruß vom Hans
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Copper

Re: Der Raum in dir
« Antwort #9 am: Februar 10, 2021, 18:28:36 »
Hallo Erich,

gefühlsstarke Sätze. Sehr ergreifend.

Wer in sich ruht ist nicht einsam. Auch wenn Deine Zeilen eine gewisse Sehnsucht beschreiben, so strahlt das Werk insgesamt doch Ruhe und Zufriedenheit aus.

Danke für s Lesen dürfen. Große Schreibkunst.

Gruß Copper
« Letzte Änderung: Februar 10, 2021, 18:39:30 von Copper »

Erich Kykal

Re: Der Raum in dir
« Antwort #10 am: Februar 10, 2021, 19:40:37 »
Hi Copper!

Danke für den freundlichen Zuspruch und die nicht wirklich negative Sichtweise meiner Zeilen, die ich den größeren Teil meiner Zeit teile.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Der Raum in dir
« Antwort #11 am: Februar 10, 2021, 19:42:12 »
das sind wunderbar Zeilen, lieber Erich.Zurückgeworfen, aber auch geschützt im eigenen Raum. Eine Sichtweise, die ich in solch einer Lebenssituation weise finde. Ja, vielleicht
findet man die Weisheit in der Stille.
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Der Raum in dir
« Antwort #12 am: Februar 10, 2021, 21:50:08 »
Hi Agneta!

Weisheit ist, was uns tröstet, wenn kindliche Unschuld uns keine Zuflucht mehr sein kann.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Ylva

Re: Der Raum in dir
« Antwort #13 am: Februar 13, 2021, 16:51:52 »
Lieber Erich,

Einsamkeit tut auch gut und kann uns in schwierigen Zeiten helfen, in uns selbst einzutauchen und über unser, über das Leben überhaupt, nachzudenken.
Wenn der Lärm der Welt unsere Gedanken übertönt und wir uns in den Erwartungen anderer, im Streben nach Anerkennung und Erfolg und an jedem einzelnen dieser Tage, an denen alles nur ein Kampf zu sein scheint, verloren haben....dann haben wir in der Einsamkeit die Chance, wieder zu uns zu finden und das zu erkennen, was wirklich wichtig ist in diesem Leben.

Ich bin durch den Krebs ja jetzt auch schon eine ganze Weile sehr isoliert...alles, was nicht notwendig ist, meide ich. Ich habe viel nachgedacht und bin zu sehr interessanten Erkenntnissen über mich und mein Leben gekommen.

LG
Ylva

Erich Kykal

Re: Der Raum in dir
« Antwort #14 am: Februar 13, 2021, 18:44:15 »
Hi Ylva!

Mit Bedauern lese ich, dass auch du an Krebs leidest. Meiner bringt mich wenigstens langsam um, keine Ahnung, ob du auch so viel "Glück" hast ... - ich wünsche dir jedenfalls das Beste.

Tja, was im Leben wirklich wichtig ist ... - ich stelle an mir fest: Je älter ich werde, desto weniger. Es ist, als würden all die hehren Unverrückbarkeiten früherer Jahre schwammig in der keimenden Erkenntnis versickern, dass letzten Endes nichts bleibt und nichts eine Rolle spielt. Erfahrung und Gefühle sind nur für den wichtig, der sie sammelt, empfindet und an jene weitergibt, die ebenfalls sterben werden. Nichts ist von Dauer, und angesichts der absoluten Gleichgültigkeit des Universums auch nicht von Bedeutung oder Sinn, die über das hinaus reichen, was sie dem jeweiligen Individuum bedeutet haben. Mit jedem Tod endet ein eigenes Universum, nur das materielle "Basis-Setting" bleibt und trägt das Leben weiter, so lang es möglich ist. Und wenn auch das endet, hat das Universum nichts falsch gemacht.
Alles ist und bleibt Entropie, und die Metaebenen des Geistes, der Fantasie und der Emotion blühen nur mit jeder Geburt stroboskophaft auf für schmerzlich kurze, freud- und leiderfüllte Momente im kalten Kosmos, ehe sie für alle Zeit verlöschen.
Wir bedeuten nichts über uns selbst hinaus. Selbst wenn unser Bild für Generationen weitergetragen wird, selbst wenn wir ganze Kulturen schaffen und überdauernde Monumente - in den Abgründen der Zeit ist all dies letztlich verloren und vergeblich. Selbst unsere Echos in der Erinnerung der Nachkommen verklingen, verblassen, verwischen.
Der Sinn, den wir uns verleihen, erwächst immer nur aus uns selbst, und er stirbt mit uns zur Welt hinaus.

Was kann also angesichts dessen wirklich wichtig sein und bis zuletzt bleiben? Das muss jeder - wie alles - für sich selbst bestimmen.

LG, eKy

Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.