Autor Thema: Der Prophet  (Gelesen 885 mal)

Erich Kykal

Der Prophet
« am: Februar 09, 2021, 11:48:34 »
Auserwählter, Gottgestählter,
aller Zweifler Sinnbehälter,
ach, wie deine Stimme klingt,
wenn sie laut und unbescheiden
die Gesetze, die sie kleiden,
in mein Fürchten niedersingt!

Glaubensgründer, Weltentzünder,
aller Sünder Heilsverkünder,
ach, wie ist dein Werben groß!
Doch wie kalt sind deine Hände,
die an meiner Seele Lende
abwärts streichen nach dem Schoß!
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Der Prophet
« Antwort #1 am: Februar 09, 2021, 13:59:56 »
Hallo Erich,

den Sinnbehälter finde ich treffend.

Dass eine Seele Lenden hat...

Ich muss noch überlegen...

Die Aussage ist klar. Und dass man sich vor so einem besser hütet.

Jedenfalls: Ein Anflug von Genialität.

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Der Prophet
« Antwort #2 am: Februar 09, 2021, 16:30:51 »
Hi Rocco!

Das Bild, dass auch etwas Ideelles wie eine Seele quasi einen Körper hat, den man mit Händen aus Ideen anfassen kann, mag nicht so weit hergeholt sein wie du vermutest. Unser Selbstbild ist nun mal eins des Körpers, der uns als Mensch definiert.
Zu dem sind die Hände von Ideen der Ausschließlichkeit immer die Hände von Vergewaltigern, von Eroberern, kalt und hart und gnadenlos. Überzeugt, die einzig wahren und richtigen zu sein, die dich  - oder irgendeine Seele - anfassen dürfen, egal wie grob und zwingend oder wie schmeichelnd und verführerisch.

Danke für den "Anflug" - ich werde mich um eine würdige Landung bemühen!  ;) :)

LG, eKy


Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Der Prophet
« Antwort #3 am: Februar 09, 2021, 19:06:27 »
Hallo Erich,

die Seele, falls es überhaupt eine gibt, kann auch Geschlechtsmerkmale haben. Zumal das Bild einer solchen Seele gut zum Schluss deines Gedichts passt.

Erlaube mir kurz eine Erläuterung: Man kann, im Rahmen einer Satire, Dinge durch den Kakao ziehen, das ist Kunstfreiheit, wohin aber führt das? Dass am Ende alles und alle mit Dreck beschmiert sind. Ja, das hat mit deinem Text null zu tun; ich will auch nur sagen, warum mir das Bild einer Seele mit menschlicher Anatomie Unbehagen bereitet.

Ich finde aber, du hast es richtig gemacht, weil die Aussage stimmig ist. Und darauf kommt es an.

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Der Prophet
« Antwort #4 am: Februar 09, 2021, 22:10:08 »
Hi Rocco!

Wenn du fragst, was genau eine Seele denn nun sei, bekommst du von 100 Menschen wahrscheinlich 100 unterschiedliche Antworten.

Für mich existiert die Seele nicht, ist eine Erfindung für todesbeängstigte Bedürftige oder ein religiöses Konstrukt der moralischen Erpressung (zB Sünden büßen in der Hölle), das nicht erklärt wird, oder auch nur definiert - ein vages Etwas, das uns der Behauptung nach im Jenseits fortsetzt, uns zu Lebzeiten allerdings nie bewusst oder fühlbar wird. Echt jetzt?

Wenn ich lyrisch von "Seele" spreche, meine ich den Geist, den Charakter plus die dazugehörige Emotions- und Erinnerungslandschaft, die gemeinsam das generieren, was man als individuelles Bewusstsein bezeichnet. Diese meine Auffassung von Seele endet allerdings mit dem Tod des Leibes, da ihre Metaebene ohne die stoffliche Basis des Gehirns nicht existieren kann.

LG, eKy

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PS:
U.a. noch unkommentiert:

http://www.dielyrik-wiese.de/lyrik-wiese/index.php?topic=6854.msg39328#msg39328

« Letzte Änderung: Oktober 13, 2024, 23:34:18 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Der Prophet
« Antwort #5 am: M?RZ 04, 2021, 16:22:28 »
Ganz stark. lieber eKy! Die wummernde Wucht der Zeilen 1-10 ist schon total beeindruckend, aber richtig hauts mich dann aus den Socken, wenn auf dem letzten Meter der Wechsel vom Propheten zum Vergewaltiger und Schänder erfolgt! Beklemmend!
Und doch aufgrund der sprachlichen Faszination sehr gerne gelesen!!!
S.
« Letzte Änderung: M?RZ 04, 2021, 16:25:42 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Der Prophet
« Antwort #6 am: M?RZ 04, 2021, 16:39:39 »
Hi Suf!

Für mich ist toltalitäter Fanatismus nichts anderes als eine seelische Vergewaltigung derer, die da zuhören (müssen). Das Bild war mir stimmig.

Diese Verweigerer allen Zweifels, diese Verwerfer aller Andersartigkeit, diese Bestimmer alles Reinen, egal ob religiös oder politisch motiviert, sind eine der schlimmsten Plagen der Menschheit!

Vielen Dank für dein vollmundiges Lob! Mit Genuss aufgesogen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Oktober 13, 2024, 23:36:02 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.