Autor Thema: Fälle  (Gelesen 742 mal)

gummibaum

Fälle
« am: November 26, 2020, 16:34:36 »
Aus Kronen fallen, aufwärts weisend,
die Blätter durch den Nebelwald
und manchmal, auf den Lüften kreisend,
gibt ihnen dieses Fallen Halt.

Auch unser Leben gleicht dem Fallen,
mit dem die Zeit ein wenig spielt,
uns schweben lässt in weiten Hallen,
als ob ein Höherer uns hielt…


« Letzte Änderung: November 26, 2020, 16:37:37 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Fälle
« Antwort #1 am: November 26, 2020, 18:53:28 »
Hi Gum!

Hier stutzte ich an diesen Stellen:

S1Z1 - Was ist unter "im Fallen aufwärts weisenden Blättern" zu verstehen? Womit weisen sie? Mit den Spitzen oder dem Stängel? Zudem fällt ein Blatt sehr chaotisch, je nach Form, Krümmung durch Vertrocknung, oder Luftströmung drum herum. Dass sie alle aufwärts weisen (wie und womit auch immer), halte ich für unwahrscheinlich. Das Bild funzt mir nicht, sorry.

S1Z4 - "-wald/Halt" ist leicht unsauber gereimt.

S1Z4 - Ein Fallen, das Halt gibt - ein Widerspruch in sich. Nach philosophischen Mabgaben ist das Bild klar, allerdings nicht physikalisch: Was den Blättern im Fall Halt verleiht, ist nämlich nicht das Fallen an sich, sondern der zufällige Ritt auf unterstützenden Luftströmungen. In diesem Zusammenhang allerdings ist der Begriff "Halt" sehr gewagt, denn es handelt sich bestenfalls um eine Illusion von nämlichem Halt, zudem extrem kurz befristet.

S2Z3 - Hier ist unvermittelt von "weiten Hallen" die Rede, die sich mir als Bild hier nicht so recht erschließen. Der Eindruck geschlossener Räume, wenn auch groß, passt nicht zum in S1 generierten Herbstbaumbild in freier Natur: Fallende Blätter (und damit auch deren Bäume) in weiten Hallen, in denen zudem genug Wind geht, um Blätter am Fallen zu hindern? Müssten echt riesige Hallen sein, wenn sie eigenes Wetter haben ...

S2Z4 - Aus Reimgründen verfällst du hier unvermittelt ins Präteritum, obwohl eigentlich ein Konjunktiv dort stehen müsste: "hielte". Weniger problematisch fände ich hier, die Reimzeile S1Z2 ins Ptäteritum zu setzen, sodass sich so ein reiner Reim ergibt: "spielte/hielte".
"Hielt" in Z4 halte ich für dahingehend problematisch, als dass es aussagt, dass dieser Höhere uns einst hielt, aber dies nun nicht mehr tut.
Dasselbe gilt natürlich auch für Z2: Mitvergangenheit hier besagt, dass die Zeit nun nicht mehr mit unserem Leben spielen würde, aber das kann man auch so deuten, dass die Zeit der Abenteuer und großen Lastwechsel als vorbei betrachtet wird, vorausgesetzt, das LyrIch spricht eine "reifere" Altersgruppe an, der es sich zurechnet. Also das kleinere Übel.


Du merkst - hier passen für mich so ziemlich alle Ecken nicht so recht und ausreichend zueinander, dass ein großes Ganzes daraus entstehen könnte. Für das von dir gewohnte lyrische Level von mir als bestenfalls durchschnittlich empfunden, und das auch nur wegen der gewohnt schönen lyrischen Sprachhabung. Sorry.

LG, eKy

Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Fälle
« Antwort #2 am: November 26, 2020, 21:19:16 »
Hi!
eKy, Du bist unser bewährter Beauftragter für inhaltliche Präzision :) Aber im Fall (sic!) von gums nachdenklich-melancholischen und doch mit einem leisen Lächeln endenden Zeilen will ich Deiner Kritik vehement widersprechen! :)
Wenn ich eine gelehrte Abhandlung über die Physik des herbstlichen Blätterfallens lesen möchten täte (ich möchte aber lieber nicht!), dann griffe ich sicher nicht ins Poesieregal. Warum sollte man auch die Aufbereitung physikalischer Inhalte in Reime kleiden, die im Zweifel der Prägnanz und Präzision im Wege stehen?
Wenn ich hingegen poetische Werke lese, dann Suche ich nicht Belehrung und Wissensmehrung sondern Trost und Erbauung. Also magst Du noch so oft anzweifeln, ob ein Fallen - physikalisch betrachtet - wohl Halt geben könne... ich empfinde diese Formulierung von gum als hochpoetisch und äußerst inspirierend! :)
Sehr gerne gelesen! Nichts ändern an diesen schönen Zeilen, lieber gum, bittebitte! :)
LG,
S.

Erich Kykal

Re: Fälle
« Antwort #3 am: November 26, 2020, 21:43:54 »
Hi Suf!

Grundsätzlich gebe ich dir recht, und meistens habe ich bei Gums hervorragenden Werken nichts zu tun außer zu loben und zu genießen! Warum ich hier so pingelig war? Vielleicht habe ich heute einen besonders "zerebralen" Tag ...

Aber mir will einfach scheinen, dass die Bilder sich teilweise widersprechen (Das Halt verleihende Fallen und die Hallen um den Wald), manche Bilder einfach für mich nicht so recht funktionieren (Das Aufwärtsweisen der Blätter im Fallen) und die Zeit in der letzten Zeile nicht stimmig ist, vom unreinen Reim ganz zu schweigen.

Insgesamt doch eine Massierung, die für das, was ich von diesem so begabten Dichter ansonsten gewohnt bin, im Vergleich betrachtet recht außergewöhnlich erscheint. Daher meine aufrichtigen Ausführungen zu meinem ehrlichen Empfinden bezüglich der monierten Textstellen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Fälle
« Antwort #4 am: November 27, 2020, 00:15:49 »
Lieber Erich,

vielen Dank für deine gründliche Auseinandersetzung mit dem Gedicht. Ich hatte beim Schreiben an deine Vorliebe gedacht, z. B. mit   
"aufwärts weisend" (als welkten in den Himmeln ferne Gärten), aber du hast es nicht heraus gelesen.
 

Lieber Sufnus,

hab Dank für deine Sensibilität und Intervention und das Lob.   


Liebe Grüße von gummibaum

 

Erich Kykal

Re: Fälle
« Antwort #5 am: November 27, 2020, 14:58:41 »
Hi Gum!

Das deshalb, weil ich das "aufwärts weisend" nicht auf die Kronen (der Bäume) bezog, sondern - was satztechnisch näher liegt, da unmittelbar nach dem Verb eingefügt - auf die fallenden Blätter.

Verständlich und bezugsklar wäre der Satz so: "Aus Kronen, aufwärts weisend, fallen // ..."


Noch was zum Titel: Ich weiß nicht, ob man "Fälle" auf eine Mehrzahl von Stürzen anwenden kann. Ich denke da immer eher an Kriminal"fälle" oder grammatikalische Fälle. Gibt es zu "Fall" im Sinne von Hinabfallen überhaupt eine gültige Pluralform?

Ich schwanke ...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.