Autor Thema: Bibliophil  (Gelesen 909 mal)

Erich Kykal

Bibliophil
« am: November 25, 2020, 12:18:27 »
Warum ist mir, was ich in Büchern grabe,
um soviel näher als das wahre Sein?
In meinem Körper lebe ich allein,
im Geiste wissend, dass ich alles habe.

Warum, wenn ich erfundene Figuren
begleite, ist die Träne immer nah,
wo Helden handeln und sich opfern da?
Ich folge weinend ihren tiefen Spuren

auf tausend Seiten täglich ohne Mühen!
Warum so kann ich nicht im echten Leben
für echte Taten echter Menschen glühen?

Warum bleibt mir Lebendiges verschlossen,
vermag der Leser nicht, den Blick zu heben,
als wäre er in stummes Erz gegossen?
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Bibliophil
« Antwort #1 am: November 25, 2020, 22:31:15 »
Schön geschrieben, lieber Erich. Evtl. "aus Büchern"

Die wirklichen Menschen sind oft trivialer als die Romanfiguren, sofern letztere sensibel als mehrdimensionale und dynamische Charaktere gestaltet sind. Daher bieten sie sich für dich vielleicht eher zur Identifikation und -wenn sie scheitern- zum Mitleiden an. Aber du schriebst ja auch schon von deinen frühen Leiden durch Mobbing und der Mauer, die du zum Schutz dagegen so hoch errichtet hast, dass weder andere noch du darüber klettern können.

Sehr gern gelesen
Grüße von gummibaum



 

Erich Kykal

Re: Bibliophil
« Antwort #2 am: November 25, 2020, 23:57:17 »
Hi Gum!

Vielen Dank für die Aufklärung!  ;) ;D Natürlich weiß ich, warum - ich wollte es nur in Frageform verdichten, so als wüsste das (hier mal nicht mit mir identische - auch wenn ich nicht abstreiten kann, dass es mir, was Bücher angeht, ähnlich geht) LyrIch nicht darum.

LG, eKy
« Letzte Änderung: November 26, 2020, 19:13:10 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Bibliophil
« Antwort #3 am: November 26, 2020, 18:57:12 »
ein Thema, das man sicherlich nicht mit einem kurzen Kommi beantworten kann, doch im allgemeinen geht es einem ja auch bei bekannten so oder wenn man einen Film sieht: man weiß immer genau, was die Prots falsch machen.
das Leben ist aber eben keine Buch oder Film, es stehen einem möglicherweise Traumata, Erfahrungen, Enttäuschungen, Angst entgegen, die einen eine falsche Entscheidung treffen lassen. Ohne es zu wollen oder zu bemerken. Und es steht immer bei jedem Schritt die Gefahr im Raum des persönlichen Verlustes von irgendwas oder irgendjemandem. Bei Prots in Büchern oder Filmen besteht diese Gefahr nicht, denn sie sind fiktiv.
Gerne drüber nachgedacht, lieber Erich mit lG von Agneta

Erich Kykal

Re: Bibliophil
« Antwort #4 am: November 26, 2020, 19:22:27 »
Hi Agneta!

Unterschätze nicht die Macht der Identifikation! Wir leiden mit einer Romanfigur, weil wir uns mit ihr verwandt fühlen, sie als uns nah empfinden, oder sie bewundern und verehren, wohl wissend, dass sie nicht real existiert. Wie sonst gäbe es Religionen und Anbetung erfundener Götter?  ;) >:D So weit kann das dann nämlich gehen - dass die Menschen die Grenze verlernen zwischen Realität und Fiktion, und das Geglaubte wird wahrer für sie als die Wirklichkeit: siehe Missionierung, Selbstmordattentäter und Glaubenskriege!

Deine Aussage stimmt unter folgenden Prämissen: Das man diese Grenze nie vergisst (wie ein Kind, das nach einem Harry Potter - Film selbst zu zaubern versucht), und dass man sich die RICHTIGEN Protagonisten aussucht, deren Abenteuer immer berechenbar und keimfrei bleiben, und deren Geschichten immer gut ausgehen. Dann ist man auf der sicheren Seite!  ;D 8) Was wiederum den Erfolg von "Schundliteratur" zum Teil erklärt (abgesehen vom begrenzten Horizont vieler Leser ...) ...  ;) >:D

LG, eKy
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Seeräuber-Jenny

Re: Bibliophil
« Antwort #5 am: November 26, 2020, 19:38:12 »
Hi Erich,

ja, ich denke auch, dass uns die Romanfiguren nahe sind, weil wir uns mit ihnen identifizieren. Im Austausch mit lebenden Menschen geht es oft um Alltägliches, Prosaisches, was natürlich auch wichtig ist. Einen Menschen wirklich gut zu kennen erfordert Zeit, manchmal Jahre. In einen dicken Schmöker kann man sich ganz und gar versenken, ohne auf die Uhr zu schauen.

Lieben Gruß
Jenny
« Letzte Änderung: November 26, 2020, 19:39:52 von Seeräuber-Jenny »
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

Erich Kykal

Re: Bibliophil
« Antwort #6 am: November 28, 2020, 13:19:51 »
Hi, Jen!

Das mag einer der Gründe sein. Ein anderer vielleicht die literarische, und damit wirkungsvolle Aufbereitung des Inhalts, die einem den Opfer- und Edelmut dieser Menschen so richtig deutlich unter die Nase reibt. Begegnen wir im wahren Leben so einer Gestalt, mutmaßen wir eher soziale Lüge, Geltungsdrang oder Naivität, da uns der persönliche Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt dieser Person völlig fehlt, weil uns hier kein verifizierter Kontext über sie ins Bild setzt.
Zuweilen mag auch zutreffen, dass wir solche Leute instinktiv unbewusst ablehnen, weil sie uns in ein schlechteres Licht rücken und ein schlechtes Gewissen machen können - bei einer Romanfigur bleibt uns ja immer das unsere Trägheit schützende Argument: Die ist nicht echt, ist fiktiv und idealisiert, denn so selbstlos ist in Wahrheit ja niemand Wildfremden gegenüber!

LG, eKy



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Sufnus

Re: Bibliophil
« Antwort #7 am: Dezember 04, 2020, 20:31:17 »
Hi eKy!
Hochinteressantes Thema und - fast müßig aber doch wichtig zu erwähnen: Überaus gekonnt und sprachlich elaboriert dargeboten! :)
Ich denke, in fiktiven Figuren aus Roman und Film lieben (oder verabscheuen oder fürchten) wir immer vor allem uns selbst. Wir sind der furchtlose Detektiv oder sympathisieren heimlich mit dem Bösewicht oder gruseln uns, weil wir im Schurken eine dunkle Seite unserer selbst erahnen.
Im wirklichen Leben werden wir mit dem Mitmenschen als einer anderen Möglichkeit des Daseins konfrontiert, verschieden von unserem Lebensentwurf oder unseren Möglichkeiten. Das kann inspirierend sein oder (ex negativo) unsere existenzielle Position verfestigen helfen, es kann unsere Lebensführung aber auch in Frage stellen und uns darum in einen Abwehrreflex flüchten lassen.
Werden wir in der Fiktion mit einer aberranten Seinsmöglichkeit konfrontiert, können wir das Buch zur Seite legen, das Kino verlassen oder die unsere Lebenskreise störende Figur zum Nebendarsteller umdeuten und sie dadurch ausblenden. Das funktioniert mit Mitmenschen oft nicht so gut.
LG!
S.

Erich Kykal

Re: Bibliophil
« Antwort #8 am: Dezember 04, 2020, 23:04:33 »
Hi Suf!

Vielen Dank für deine Gedanken - und natürlich das sprachlich ebenso akzelerierte Lob!  :)

Ein Grund dafür, warum der Bücherwurm bei seinen Büchern bleibt und das "wahre Leben" scheut, mag sein, dass man Bücher jederzeit schließen und weglegen kann, wenn sie nicht gefallen, und selbst wenn man sie sich antut, sie ohrfeigen einen nie oder hintergehen einen oder stehlen einem das Geld. Geschichten sind sicher. Echte Menschen sind es nicht. Sie können jederzeit aus dem "Skript" fallen.  :o
Eine unerwartete Wendung mag im Buch interessant und abenteuerlich sein, bei Menschen, auf die man sich verlassen hat, tut sie meist weh. Sehr.
Und dieser ewige Zweifel des gebrannten, enttäuschten Kindes macht, dass die Menschen ihm fremd bleiben, auf Abstand, emotionsbereinigt, während er sich den Geschichten ganz und gar hingeben kann, ohne befürchten zu müssen, dass sie ihm ein Messer in den Rücken stoßen oder ihn auslachen und verspotten. Denn sie sind, so wie sie sind, bereits geschrieben und ändern sich nicht mehr (es sei denn, irgendein Depp verfilmt sie und glaubt, er müsse zusätzlich dramatisieren ...  ::)).

LG, eKy
« Letzte Änderung: Oktober 06, 2021, 23:38:41 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.