Autor Thema: Die Erhabenheit der Stille  (Gelesen 858 mal)

Erich Kykal

Die Erhabenheit der Stille
« am: November 21, 2020, 11:34:04 »
Die nackten Äste krallen sich wie Fingerspitzen
Vergessener in frostig blass erblaute Himmel,
der Reif bezieht die Schattenseiten noch wie Schimmel,
und eine Kälte zieht in alle Mauerritzen,

die uns ermahnt, dass, was wir glauben zu besitzen,
uns nur geliehen ist für eine kurze Weile,
so lang ein Schicksal gnädig ist, das ohne Eile
verwittern macht, was wir an Überbleibseln schnitzen.

Die Lüfte ruhn, und aus der Wälder stummem Dauern
macht eine große Stille sich erhaben mündig,
die weithin schweigen macht, was Menschen klein und sündig
an Lautem schaffen, um einander zu belauern.

Den dies Gewahrenden erfasst ein ernstes Schauern
vor diesem Augenblick, der ihn in Schweigen hüllen
und wirken will, dass alte Sagen sich erfüllen,
und seine Endlichkeit erfüllt ihn mit Bedauern.
« Letzte Änderung: November 21, 2021, 15:29:37 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Die Erhabenheit der Stille
« Antwort #1 am: November 21, 2020, 21:07:00 »
Klasse, lieber Erich!

Leere und Kälte in der ersten, Stille in der dritten Strophe sind die Fingerzeige der Natur, um sich der zeitlichen Begrenztheit des eigenen Dasein bewusst zu werden, die in den anderen beiden Strophen deutlich wird.

Mit Andacht gelesen.
Chapeau von gummibaum


Erich Kykal

Re: Die Erhabenheit der Stille
« Antwort #2 am: November 22, 2020, 11:27:05 »
Hi Gum!

Vielen Dank für die freundliche Begeisterung!  :)

Erneut eins von meinen "Blick aus dem Fenster von meinem Schreibtisch aus - Gedichten", das schlicht die empfundene Stimmung beschreibt, sowie die durch sie ausgelösten Gedankengänge.
Da ich seit Monaten unter stärkeren Muskel- und Gelenkschmerzen leide, mache ich - auch für Inspiration - so wenig Bewegung wie möglich.

Natürlich sollte ich das Gegenteil tun und mich geünder ernähren - aber dazu habe ich schon seit Jahren keine Lust. Es ist die grundsätzliche Frage, wie man seine letzten Jahre verbringen will: In dauernder Kasteiung und somit eingeschränkter Lebensqualität, oder gönnt man sich - auch wenn es weh tut -  noch bis zuletzt die einzige noch verbliebene echte Lebensfreude, den einzigen noch einigermaßen würdevoll umsetzbaren Genuss: Zu essen, was einem schmeckt!?

Dauerdilemma!!!  :o ::) :-\

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Die Erhabenheit der Stille
« Antwort #3 am: November 23, 2020, 09:28:21 »
Hi Erich,


da hast Du für die spätherbstliche Kälte und Stille wunderbare Bilder gefunden. Die Äste, gesehen als die Fingerspitzen Vergessener, das ist ein großartiges Bild. Allein schon um dessentwillen mag ich dieses Gedicht.
Allerdings habe ich ein Problemchen mit der Zeile
"macht eine große Stille sich erhaben mündig". Etwas, das groß und erhaben ist, muss sich nicht mündig machen. Das ist so eine Irritation, die denke ich, aus dem Reim entstanden ist (auf sündig reimt sich nicht so viel). Bei Deinem Können sollte es möglich sein, dass Du eine stimmigere Wendung findest, damit es in allen Zeilen stimmig und großartig ist, Dein Werk.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: Die Erhabenheit der Stille
« Antwort #4 am: November 23, 2020, 10:25:02 »
Hallo AL!

Vielen Dank für das wohlwollende Lob!  :)

Die Phrase mit "mündig" war durchaus so gedacht, und den Reim dazu suchte ich mir erst, nachdem ich sie so formuliert hatte. Ich hatte damit gemeint: Macht sich mündig im Erkennen des Betrachters, sprich: erklärt sich ihm, macht sich ihm erkenntlich und begreiflich.
Ohne diese Wahrnehmung durch ein denkendes und fühlendes Wesen wäre sie nur - schlichte Lautlosigkeit. Um mehr zu werden, um jene Erhabenheit zu "empfangen", bedarf es der diesbezüglichen Geistes- und Gefühlshaltung eines beschreibenden Individuums. Die Stille muss in ihm "mündig werden", zu ihm sprechen.
Ich hoffe, du verstehst, was ich meine. Warten wir ab, ob andere sich ebenfalls an dieser Stelle stoßen. Wenn ja, bin ich geneigt, die Zeile umzuschreiben, um meine Intention deutlicher zu machen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Die Erhabenheit der Stille
« Antwort #5 am: November 23, 2020, 10:29:32 »
Herzlichen Dank für die Erläuterung. Ich beginne zu verstehen, was Dir da wichtig war. Für mich - und das mag ja mein Problem allein sein - ist es das lyrische ich, dass sich der Erhabenheit der Stille öffnen muss, nicht die Stille muss sich "mündig" machen.


Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: Die Erhabenheit der Stille
« Antwort #6 am: November 23, 2020, 10:35:58 »
Hi Al!

Ich stimme zu, allerdings war die Stille hier personifiziert, darum ging sozusagen die "erkenntliche Initiative" von ihr aus.  ;) Diese Umschreibung darf als purer lyrischer Efekt gelten, im Grunde hast du natürlich Recht.

LG, eKy
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Rocco

Re: Die Erhabenheit der Stille
« Antwort #7 am: November 23, 2020, 21:44:25 »
Hallo Eky,

als zentralen Punkt des Gedichts empfinde ich die zweite Zeile, wo gesagt wird, dass aller Besitz vom Schicksal nur geliehen ist.

Einzig der Schluss mit der alten Sage ist mir unklar. Bezieht sich das auf die große Stille, die sich mündig macht? "Mündig" wäre demnach doppeldeutig: reif/ erwachsen und Mund im Sinne von reden/ sagen. In Bezug auf: "alte Sage".

Der Reim ist: abba.

Das Versmaß: Gehe ich vom Versanfang aus, wird immer die zweite Silbe betont. Der Ton steigt, das ist dann ein Jambus?
(Ok, ich habe keine Ahnung...)

Ohne polemisch sein zu wollen, aber dein Gedicht lebt von subjektiven Eindrücken und das könnete man unterstreichen, indem man alles klein schreibt. Die Satzzeichen würde ich lassen, weil sie den Text strukturieren. Auch die Reime ließe ich.

(Das nur als Gedanke und nicht als empfehlung.)

Einen schönen Abend

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Die Erhabenheit der Stille
« Antwort #8 am: November 23, 2020, 23:02:13 »
Hi Roc!

Die "alten Sagen" sollen nur ein verstärkendes Bild zur "Erhabenheit" der Stille sein, soll die Größe des Augenblicks unterstreichen, nichts weiter. Die "Mündigkeit" soll nur ein Bild sein für die Bedeutung und das Gewicht dieser Stille, dieses erlebten Momentes.

Hier sprechen wir von sechshebigen Verszeilen mit unbetontem Auftakt (2. Silbe betont) und weiblichen Kadenzen (unbetonten Schlusssilben).

Die Fachbegriffe wie Jambus, Daktylus, Trachäus, Amphibrachys usw... hab ich bis heute nicht zu unterscheiden/zuzuordnen gelernt, ist fürs Technische aus meiner Sicht unnötig. Die ganze Art dieser Einteilung und Definition halte ich für unnötig kompliziert und (für mich zumindest) relativ verwirrend.

Vielen Dank für deine Gedanken!  :)

LG, eKy
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Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Die Erhabenheit der Stille
« Antwort #9 am: November 25, 2020, 10:07:28 »
die Erhabenheit der Stille. ja, ich schrieb im April, durch Coronabedingte Stille, darüber eine Kurzprosa, lieber Erich. Stille können viele Menschen schwer ertragen, denn sie stellt uns. Klasse geschrieben, wortkünstlerisch.
LG von Agnegta

Erich Kykal

Re: Die Erhabenheit der Stille
« Antwort #10 am: November 25, 2020, 11:45:02 »
Hi Agneta!

Veilen Dank für die freundlichen Worte!  :) Ich pflichte bei - die Stille erträgt nicht jeder, und jeder derer, die es tun, nicht immerzu. Wir bleiben Menschen, die zuweilen Menschen brauchen, und Menschenwerk, uns dran zu reiben oder dafür zu begeistern.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.