Autor Thema: Worte für meine Freude  (Gelesen 1654 mal)

AlteLyrikerin

Worte für meine Freude
« am: November 14, 2020, 13:12:00 »
Stimmig sollen sie sein,
nicht überschäumend
oder unterkühlt.

Auch kein Triumphschrei,
denn nah ist
das Leid der anderen.

Ich geb's auf, derweil
ein Ungenanntes
versonnen in mir lächelt.

Ach ja, der Anlass?
Ein Sonnenstrahl
im November genügt.

Sufnus

Re: Worte für meine Freude
« Antwort #1 am: November 17, 2020, 10:51:14 »
Hi AL!

Ohne überzuschäumen (und selbstredend schon gar nicht herzenskühl) führ ich da doch gerne ein kleines Freudentänzchen auf, liebe AL!
Vor allem die Wendung: "Ach ja, der Anlass?" ist ein echter Nachbrenner, der die Zeilen nochmal in höhere Ätherschichten beschleunigt.

Ich glaube, bei der Wortwahl könnte man noch ein bisschen hin- und her experimentieren, wobei der grundsätzliche, ganz zurückgenommene Ton schon sehr gut hinhaut.

Vielleicht sind "überschäumend" und "Triumphschrei" fast noch etwas zu dick aufgetragen, wo sonst doch alles mit so feinem Pinselstrich ausgeführt ist. "Ein Ungenanntes" bleibt hingegen für mein Empfinden noch ein wenig blass, solche versächlichten Hauptwortkonstruktionen finde ich immer ein bisschen anämisch. "versonnen" dagegen: ganz wunderbar. Mit dem "lächelt" würde ich wahrscheinlich wieder spielen - für mein Dafürhalten wäre z. B. "in mir versonnen ist" wirkungsvoller als "versonnen in mir lächelt". Und mit "Sonnenstrahl" ergibt sich eine Wiederholung von "versonnen", die den Effekt für mein Liking einen Tick zu breit auswalzt, Lichtstrahl würde mir da beispielsweise besser gefallen.
Das ist so ein kleiner Diamant, dieses Gedicht, an dem man jahrelang herumfeilen kann. Es wird niemals ganz fertig sein und soll es auch gar nicht. Aber das poetologische Konzept gibt hier mächtig was her. Vor allem diese Frage nach dem Anlass. Aber das erwähnte ich ja bereits... :)

LG!

S.

AlteLyrikerin

Re: Worte für meine Freude
« Antwort #2 am: November 17, 2020, 14:07:49 »
Lieber Sufnus,


herzlichen Dank für Deine ausführliche Kommentierung. Das finde ich wirklich fruchtbar und mag mich gerne intensiver damit auseinandersetzen. Aber aktuell arbeite ich sehr viel. Neben meinen ehrenamtlichen Aktivitäten habe ich mich (Alter schützt vor Torheit nicht) noch einmal breitschlagen lassen an einem Softwareprojekt mitzuarbeiten.
Daher kann es leider etwas länger dauern bis ich auf Deine Anregungen konkret antworte.


Liebe Grüße, AlteLyrikerin.


P.S. Es kann leider auch dauern bis ich Zeit finde, all die anderen wunderbaren Werke hier zu kommentieren. Ich werde es aber sukzessive nacharbeiten, versprochen!
« Letzte Änderung: November 17, 2020, 14:09:25 von AlteLyrikerin »

AlteLyrikerin

Re: Worte für meine Freude
« Antwort #3 am: November 20, 2020, 12:07:51 »
Lieber Sufnus,

nun zu Deinen fruchtbaren Anregungen.

An "überschäumend" würde ich gern festhalten, falls mir nicht noch etwas Besseres einfällt. Es geht mir darum, dass Freude heute auch schon fast wie ein Event inszeniert werden muss. Das Überschäumende kann ein Bild dafür sein, dass die Worte für die gefühlte Freude nicht nur übertrieben sind sondern etwas Verfälschendes. Nicht umsonst nennt man manche Menschen und ihre rhetorischen Phrasen "Schaumschläger".

Statt des Triumphschreis würde ich nun eher schreiben:

Auch kein lauter Jubel, ...

Was die dritte Strophe angeht, denke ich über den folgenden Versuch nach:

Ich geb‘s auf, derweil,
ein kindlich frohes Lächeln
unbefangen mit mir spielt.

Mit der Doppelung von "versonnen" und "Sonnenstrahl" hätte ich keine Probleme, aber in dem neuen Versuch findet das ja keinen Raum.
In "versonnen" steckt ja "sinnen" und damit auch "Sinne" oder "sinnlich" drin. Das meint nicht nur eine bestimmte Art der Reflektion, die eher dem meditativen als dem rational rechnenden Bereich zugeordnet ist, sondern spielt auch darauf an, dass alle Erkenntnis über die Vermittlung der Sinne ihren Anfang nimmt. Eine Denkweise, die von der Scholastik weg in ein naturwissenschaftlich bestimmtes Denken geführt hat. Mit den "Sonnenstrahlen" würde dann der sinnliche Impuls als Ursprung der Freude diese Sichtweise aufgreifen.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.


Rocco

Re: Worte für meine Freude
« Antwort #4 am: November 23, 2020, 21:59:08 »
Hallo Leute,

wie ich sehe bereitet euch die Wortwahl Kopfzerbrechen.

Wenn der Grundton des Gedichts zurückhaltend sein soll, würde ich die erste Strophe leise machen, und im Kontrast dazu, die zweite laut.

Heißt: Die erste Strophe kann man verbessern mit: Auch kein lauter Jubel. Und in der zweiten kann man "Leid" durch "Weh" ersetzen. So hätte man einen Kontrast.

Beim Rest bin ich noch unschlüssig. Mache mir aber weitere Gedanken. Dazu später mehr.

Euch einen schönen Abend

Rocco

"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Agneta

  • Gast
Re: Worte für meine Freude
« Antwort #5 am: November 25, 2020, 10:04:24 »
eine gelungene Mahnung, liebe AL, seine Worte sorgsam zu wählen. Gefällt mir. LG von Agneta

Rocco

Re: Worte für meine Freude
« Antwort #6 am: November 26, 2020, 23:42:13 »
Hallo Leute,

finde endlich Zeit für ausführlichere Worte.

Ich selbst hadere auch immer mit eigenen Texten, oft weiß ich nicht, was genau ich sagen will, aber es soll gleich alles exakt und genial sein. (Übertrieben gesprochen.)

Deinen Kommentaren,Lyrikerin, entnehme ich, dass du gerne das "überschäumend" im Text lassen willst. Deine Begründung dafür überzeugt mich. Allerdings frage ich mich, warum du, statt "überschäumend" nicht schaumgeschlagen schreibst, wenn du Schaumschläger meinst?

Schaumgeschlagen klingt mehr nach Inszenierung als überschäumend.

Auch bin ich für "spärlich" statt "unterkühlt". Spärlich klingt nach armselig und das passt auch auf Leute, die Schaum schlagen.

Die alternative Strophe mit dem kindlichen Lächeln überzeugt mich nicht. (Aber das heißt nichts.) Ein Grund: Ein kindliches Lächeln ist bereits froh und unbefangen. Würde man die Strophe aber kürzen, käme sie, zumindest mir, dünn vor. Aber auch das heißt nichts.

Auch bin ich für "Weh" statt "Leid". Ich finde, wenn man über Schmerzen redet, dann ist Leid zu distanziert, zumal das lyr. Ich den Anspruch hat, authentisch sein zu wollen.

Letzte Anmerkung: Ich habe hinter jeder Strophe einen Punkt gesetzt, ausser hinter der letzten.

Meine Version lautet:


Stimmig sollen sie sein,
nicht schaumgeschlagen
noch spärlich.

Auch kein lauter Jubel,
denn nah ist
das Weh der anderen.

Ich geb's auf, derweil
etwas Ungenanntes
versonnen in mir lächelt.

Ach - Anlässe...
Ein blauer Himmel
im November genügt


Dein Kommentar, Sufnus, ist erhellend, schön, wenn Leute nicht einfach nur ihren Senf dazugeben, sondern anregen. Womit ich keinen aus diesem Forum meine, um unnötige Diskussionen vorzubeugen.

Euch allen einen schönen Abend

Rocco

« Letzte Änderung: November 27, 2020, 03:21:11 von Rocco »
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

AlteLyrikerin

Re: Worte für meine Freude
« Antwort #7 am: Dezember 11, 2020, 13:38:27 »
Liebe Agneta, lieber Rocco,


herzlichen Dank erst einmal fürs Lesen und Eure wertvollen Kommentare, die mir Freude bereitet haben.


Viele bedenkenswerte Bemerkungen habt Ihr zu meinem Text gemacht (besonders auch Dir, Rocco, ein herzlicher Dank dafür). Mit der Überarbeitung bin ich noch nicht fertig und brauche wohl noch etwas Zeit.
Vorab nur eine Anmerkung zur Wahl zwischen "Weh" und "Leid". Jeder hat ja ein etwas anderes Sprachgefühl, und persönliche Erlebnisse prägen die Semantik mancher Wort sehr stark in eine bestimmte Richtung. Für mich ist "Weh" nicht passend (eine Wehwehchen schwingt da mit oder lamentierendes sprechen wie in 'Weh und Ach'). Leiden meint ein leiblich-seelisches Bedrücktsein, das über einen kurzen Schmerz, eine leichte Eintrübung der Lebensfreude weit hinaus reicht und die Lebensperspektiven nachhaltig verdunkelt.


Melde mich wieder, wenn ich eine neue Fassung gefunden habe. Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.