Autor Thema: Adipositas  (Gelesen 1496 mal)

AlteLyrikerin

Adipositas
« am: August 03, 2020, 15:28:20 »
Nährte ich meinen Geist
so intensiv wie meinen Leib,
wüchse die Liebe in mir
stärker als die Angst,
sähe meine Hoffnung
über meinen Horizont,

dann äße ich
das karge Brot mit Freuden
und bräuchte weder
betäubenden Trank
noch steten Genuss
gegen den Hunger nach Sinn.

gummibaum

Re: Adipositas
« Antwort #1 am: August 03, 2020, 21:02:09 »
Das stimmt, liebe AlteLyrikerin. In Zeiten der Liebe brauchte ich kaum Nahrung, in anderen wurde ich nie satt.

Gern gelesen.
Grüße von gummibaum

 

Erich Kykal

Re: Adipositas
« Antwort #2 am: August 03, 2020, 21:59:31 »
Man muss das adipositiv sehen ...  >:D

Scherz beiseite - ich bin ja sowas wie ein Fachmann in Sachen chronische Adipositas: Ab meiner Pubertät war ich praktisch immer zunehmend fett (bis auf 2 Jahre meiner Mitt- bis Endzwanziger, wo ich mich tatsächlich auf Idealgewicht heruntergehungert und -gesportelt hatte) und wiege heute, mit Mitte 50, so um die 150 kg, und das bei einer Größe von 173 cm.

Keine Ahnung, ob ich je nochmal die Willenskraft aufbringe, mich nachhaltig zu kasteien, ist das Essen doch quasi die einzige Lust, die mir geblieben ist, um die Leere in mir zu füllen, die mein selbstverhindertes Leben hinterlassen hat. Ich wage zu zweifeln ...

Sinn brauche ich keinen, und die Angst war bei mir immer stärker als die Liebe (welche bei mir in Bezug auf Mitmenschen ohnehin etwas unterentwickelt war - eine Jugend als gemobbter Sonderling hinterlässt Spuren ...). Da werd ich wohl noch etwas an mir arbeiten müssen ...  ::)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Adipositas
« Antwort #3 am: August 05, 2020, 14:01:17 »
Lieber gummibaum,

herzlichen Dank für Deinen zustimmenden Kommentar.


Hi Erich,

herzlichen Dank auch dir für Deinen Kommentar. Du schreibst selbst, das lustvolle Essen habe bei dir u.a. auch die Funktion "um die Leere in mir zu füllen". Genau darum geht es ja in dem Text. Mit "Sinn" ist hier übrigens nicht eine letztendliche, gar religiöse Antwort auf die Sinnfrage gemeint. Es geht um etwas, das die eigene Existenz mit Lebendigem erfüllt. Das kann eine leidenschaftliche Liebe, die Hingabe an ein Lebensprojekt, an die Kunst, .... sein.
herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: Adipositas
« Antwort #4 am: August 05, 2020, 14:05:27 »
Verzeih, dass ich so ein einseitiges Interpre-Tierchen bin ...  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Adipositas
« Antwort #5 am: August 05, 2020, 14:16:56 »
gibt nichts zu verzeihen! Eine kritische Auseinandersetzung mit Texten ist fruchtbar. Ich finde es sehr anregend, überhaupt eine Rückmeldung zu erhalten, wie ein Text von mir interpretiert worden ist. Manchmal finden Leser etwas darin, das ich nie hineingelegt zu haben meinte. Das ist dann besonders spannend.
Übrigens, Deine Art zu kommentieren, wollte ich tatsächlich nicht karikieren. Ich lerne viel aus Deinen Kommentaren, und Du hast mich dazu motiviert, mehr auf Metrik zu achten. Allerdings werde ich nie ein Dogma daraus machen, vor allen nicht in ungereimten Versen.



Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Agneta

  • Gast
Re: Adipositas
« Antwort #6 am: August 07, 2020, 18:28:56 »
Essen als Ersatzbefriedigung, liebe AL, das gibt es schon. Aber genauso gibt es auch exzessiven Sport aus demselben Grund. Was wir daraus lernen ist, dass es letztlich doch lieben und geliebt werden ist, dass uns allein glücklich macht.
Den Geist nähren, um der Liebe mehr Raum geven zu können? Ziemlich abgehoben, aber ein Gedanke mit dem man sich mal auseinandersetzen könnte. Gerne gelesen, deine Zeilen mit lG von Agneta

Eleonore

  • Gast
Re: Adipositas
« Antwort #7 am: August 07, 2020, 23:36:57 »
Nährte ich meinen Geist
so intensiv wie meinen Leib,
wüchse die Liebe in mir
stärker als die Angst,
sähe meine Hoffnung
über meinen Horizont,

dann äße ich
das karge Brot mit Freuden
und bräuchte weder
betäubenden Trank
noch steten Genuss
gegen den Hunger nach Sinn.

Hallo Alte Lyrikerin

ich stimme Dir zu, sehr sogar.

Um meinen Geist zu nähren, wirklich und wirksam,
brauche ich viel Zeit.... die sich so weit dehnt, dass der Geist sich ausdehnen kann.
Das geht nicht mal eben zwischen Feierabend und Bettgehen. Jedenfalls nicht bei mir.
Zeit und Stille sind die Ingredienzien, die eine Voraussetzung für meinen Geist sind, um genährt zu werden.

Das erfüllt und weitet ....,
so dass ich nicht auf soviel Ersatz angewiesen bin,
ja auch in der Lage bin, dem gierigen Teil in mir, der gerne mal frißt oder schlemmt,
Einhalt zu gebieten,
weil ich einfach weiß, wie sich das rächt.

Bin ich aber nicht in meiner - geistigen - Weite,
dann ist dem Konsum in jedweder Hinsicht eher Tür und Tor geöffnet.

Danke für Deinen Anstupser ,
den ich sehr gerne gelesen und reflektiert habe.

lG Eleonore

AlteLyrikerin

Re: Adipositas
« Antwort #8 am: August 12, 2020, 13:27:33 »
Liebe Agneta,
herzlichen Dank für Deine Gedanken zum Text. Du schreibst
Zitat
Den Geist nähren, um der Liebe mehr Raum geven zu können?
Ohne jetzt in eine Besserwisserei verfallen zu wollen, aber dieses "um ... zu" ist im Text gar nicht enthalten. Den Geist öfter mal  zu favorisieren statt die leibliche Bedürfnisbefriedigung, die Liebe nicht von Angst bedrängen zu lassen und die Hoffnung durch einen weiteren Horizont zu stärken, das sind die Vorschläge des lyrischen Ich für das Füllen der Leere in der menschlichen Existenz.

Liebe Eleonore,
herzlichen Dank für Deinen freundlichen Kommentar, der mir zeigt, dass Du etwas für Dich in dem Text finden konntest.

Euch beiden wünsche ich einen schönen herzerwärmenden Sommertag, AlteLyrikerin.

Eleonore

  • Gast
Re: Adipositas
« Antwort #9 am: August 12, 2020, 17:23:50 »
Liebe Alte Lyrikerin,

Danke für Deine sommerlichen Wünsche -
es ist heiß!

Dir auch frohe Sommertage und viel guten Mut bei Deinem Tun!

Eleonore

Sufnus

Re: Adipositas
« Antwort #10 am: August 19, 2020, 17:26:22 »
Liebe AL,
auch ich mag Dein Gedicht sehr! Mir persönlich würde nur ein anderer Titel noch besser gefallen. :)
Der Titel ist - wahrscheinlich durchaus "absichtlich" - sehr technisch. Das weckt eine gewisse, ins Medizinische spielende Erwartungshaltung, deren Unterlaufung durch den folgenden Text dann einen distanzierenden Verfremdungseffekt nach sich zieht. In gewisser Weise wird durch den Titel eine Instanz jenseits des lyrischen Ich aufgebaut: Das "Ich" des Gedichts würde seinen eigenen Zustand offenkundig mit der lapidaren Diagnose "Adipositas", welche den ungestillten Sinn-Hunger gar nicht adressiert, als inadäquat umschrieben empfinden; der Titel stammt also von einem nüchtern konstatierenden "Autoren-Konstrukt" (das selbstredend nicht mit der wahren Person des Autors identisch ist ;) ). In der Diagnosestellung "Adipositas" spricht also nicht das lyrische Ich.
Das Verhältnis von Titel zu lyrischem Ich in der Lyrik ist wohl generell eigene, findig-germanistische Betrachtungen wert (es gibt solche sicherlich in großer Zahl). In Goethes Gedicht "Gefunden" kann man z. B. den Titel leicht als einen erfreuten Ausruf des lyrischen Ichs auffassen (erst in zweiter Linie wird daraus vielleicht auch ein distanzierterer Kommentar zum Gedichtgeschehen). Hingegen entspringt in Gernhardts "Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs" der sperrig-komische Titel sicherlich nicht dem Reden des lyrischen Ichs.
Nun also... in hohem Bogen... zurück zu Deinen Zeilen :) : Hier wird im Gedicht-Text erkennbar "Überzeugungsarbeit" am Leser geleistet: Er soll zum Nachdenken angeregt werden und, mehr noch, er soll dazu ermuntert werden, die Bedeutung eines höheren (tieferen?) "Sinns" im Dasein anzuerkennen. Kein Mensch kann demnach ohne ein "inneres Idyll" glücklich werden, ein innerliches Schutzgebiet, wo das Schöne schön sein darf und wo eine Art geistiges Ur-Meter verwahrt liegt, mit dem wir (er)messen können, was gut ist und was uns gut tut. Diese Werbung des Gedichts für ein solches Glaube-Hoffnungs-Liebe-Reservat wird nun aber durch das kühle Verdikt "Adipositas" recht harsch unterlaufen, wie ich finde. Und so sehr diese Dissonanz von Titel und Gedichttext auch das Denken des Lesers anzuregen geneigt ist, bin ich doch nicht sicher, ob es für die Zeilen zum Guten ausschlägt.
Mein Titel-Vorschlag wäre übrigens "Hunger"... :)
LG!
S.




« Letzte Änderung: August 20, 2020, 12:39:37 von Sufnus »

AlteLyrikerin

Re: Adipositas
« Antwort #11 am: August 22, 2020, 16:20:20 »
Lieber Sufnus,

herzlichen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar. Ja, passt nun der Titel, oder konterkariert er gar den Text? Du schlägst "Hunger" vor. Bei diesem Wort denke ich an die Millionen in der Welt, die verhungern oder frühzeitig an Mangelernährung sterben. Wir in Westeuropa kennen Hunger eigentlich gar nicht mehr. Was wir dafür halten ist ein sehr starker Appetit.
Anfangs wahr ich auch besorgt, ob ich "Adipositas" als Titel wählen sollte. Das ist eine schwere Krankheit, und die Betroffenen müssen neben ihrem Leid noch die mehr oder weniger offen gezeigte Verachtung ertragen. Mit meinen Versen wollte ich nicht in dieselbe Kerbe hauen.
Ich kenne Menschen, die essen gar nicht zu viel (was man ihnen unausgesprochen immer vorwirft), sondern sie benutzen Medikamente mit der Folge einer beständigen Gewichtszunahme.
Für die Menschen, die wirklich mit ihrem Esszwang nicht mehr zurechtkommen, wollte ich eine Anregung geben, darüber nachzudenken, wofür zu viel "Essen" eigentlich stehen kann. Für eine innere Leere, die zwanghaft gefüllt werden soll. Dafür wäre, jedenfalls meiner Meinung nach, eine therapeutische Herangehensweise besser als das Magenband.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.