... nach einer langen Kunstpause geht es jetzt weiter!
Zunächst Faden nochmal aufnehmen:
Ich habe mich obig vom normalen Sprechen in ungebunder Rede zur sogenannten gebundenen Rede vorgearbeitet (wobei ich die "Bindung", d. h. das feste Regelwerk, dem sich die gebundene Sprache unterwirft, thematisch passend einmal auf den Aspekt der rhythmischen "Gebundenheit" einenge).
Also:
Normales Reden (und schreiben) = ungebunden = es gibt keine starre rhythmische Regel und die Wörter holpern fröhlich vor sich hin, wie es ihnen gefällt.
Gebundene Sprache = es gibt eine feste rhythmische Regel, nach der sich betonte und unbetonte Silben in einer definierten Reihenfolge abwechseln.
Der Rhythmus einer (gebundenen) Gedichtzeile wird dabei durch kleine Grundbausteine definiert, die man als das Metrum einer Zeile bezeichnet. Ein sogenanntes Metrum setzt sich wiederum aus einem oder zwei Versfüßen zusammen. Der Versfuß ist also die kleinste Baueinheit einer Gedichtzeile.
Fünf Versfüße sind im Deutschen vor allem wichtig, nämlich der Jambus (das ist im Deutschen der allerwichtigste Vertreter), der Trochäus, der Daktylus, der Anapäst und der Amphibrachys.
Etwas weniger wichtig ist der Kretikus und ein völliger Exot im Deutschen ist der Spondeus.
Es gibt durchaus noch ein paar mehr Versfüße, aber mit den 5 plus 2 soll es mal genügen.
Die Betonungen dieser Versfüße sehen so aus (in Klammern jeweils ein paar Wortbeispiele, die diese Regel mehr oder weniger befolgen):
Jambus: unbetont - betont (Aspekt, Gewalt, umsonst)
Trochäus: betont - unbetont (Klingel, Wunde, Rabe)
Daktylus: betont - unbetont - unbetont (Daktylus, Mehlschwitze, Grabungen)
Anapäst: unbetont - unbetont - betont (Anapäst, Ratatouille, Akribie)
Amphibrachys: unbetont - betont - unbetont (Radieschen, Krawalle, Versammlung)
Kretikus: betont - unbetont - betont (Liebesschwur, Rhapsodie, Sakrament)
Spondeus: betont - betont (Pechschwarz, halbschwer, todwund)
Wem das beim Lesen nicht so gleich einleuchtet, der kann ja einfach mal versuchen, eines der aufgeführten Wörter "falsch" zu betonen, dann merkt man, finde ich, am besten, wie es "richtig" klingen muss.
Also versucht mal, das Wort "Gewalt" als Trochäus zu betonen, d. h. auf der ersten Silbe. Klingt irgendwie schräg. Oder das Wort "Klingel" auf der zweiten Silbe betonen - das hört sich nach einem Franzosen an, der seine ersten Gehschritte im Deutschen absolviert. Oder versucht mal Radieschen als Kretikus zu lesen, dann klingt es plötzlich irgendwie schwer nach russischem Akzent usw.
Zu alldem muss man nun sagen, dass diese Versfüße von den Griechen und Römern "erfunden" wurden (die Namen deuten es an), die ein ganz anderes metrisches Prinzip (nämliche die quantitierende Sprache, siehe 1. Beitrag) realisierten. Die Übertragung dieser Versfüße auf die akzentuierende deutsche Sprache ist durchaus nicht ganz unproblematisch.
Und manches funktioniert im Deutschen einfach nicht gescheit - namentlich der Kretikus und ganz besonders der Spondeus.
Das liegt daran, dass im Deutschen zwei direkt aufeinander folgende betonte Silben eigentlich nicht vorgesehen sind. In meinen Beispielen für einen Spondeus könnt ihr sehen, dass zwar die beiden Silben schon irgendwie beide recht stark betont sind, aber eine hat, je nachdem wie man es nun ausspricht, jeweils den Hut als Hauptbetonung auf.
Wenn im Deutschen zwei Silben exakt gleich stark betont werden, muss man eigentlich eine Sprechpause zwischen diesen Silben einlegen und man redet hier von einem Hebungsprall. Diese erzwungene Sprechpause ist natürlich für einen gleichmäßigen rhythmischen Fluss der Super-GAU und deshalb spielt der Spondeus praktisch keine Rolle. Und beim Kretikus stößt man auf das gleiche Problem, sobald man mehrere "Kretikusse" hinter einander abspult, kommt es ja unweigerlich zum Hebungsprall: betont - unbetont - betont - betont - unbetont - betont. Da ists schon passiert, zwischen dritter Silbe (letzte Silbe vom ersten Kretikus) und vierter Silbe (erste Silbe vom zweiten Kretikus) kommt es zur Zungenverknotung durch schweren Fall von Hebungsprall.
Natürlich kann man aus diesen Schwierigkeiten auch einen Sport machen und gradzumtrotz versuchen, spondeische oder kretikussische Gedichte zu schreiben. Viel Spaß dabei!
Neben dem schrecklichen Hebungsprall ist übrigens auch der (weniger schreckliche) Senkungsprall zu erwähnen. Das meint, wenn zwei unbetonte Silben auf einander folgen. Beim Anapäst und beim Daktylus ist das ja schon im Versfuß vorgesehen. Und wenn sich zwei "Amphibrachysse" hinter einander gesellen, gibt es ebenfalls zwei unbetonte Silben nach einander. Ist im Prinzip nicht schlimm, führt aber dazu, dass die deutsche Zunge sich danach umsomehr nach einer gescheiten betonten Silbe sehnt. Zwei unbetonte Silben nach einander erzeugen also eine gehörige rhythmische Spannung und setzen den Sprecher ganz schön unter Zugzwang. Was im Deutschen nämlich gar nicht so gut kommt, sind drei unbetonte Silben in Folge. Bei Griechen und Römern wäre das kein Problem und nennt sich Tribrachys, aber im schönen Germanien ist das rhythmisch eine gewagte Geschichte. Auch hier gilt: Wer sich herausgefordert fühlt, der versuche sein Glück!
Jetzt ist das soweit schonmal schön und gut. Aber wie finden nun Wörter in diesem System von zwei- und dreisilbigen Versfüßen ein zuhause, die nur aus einer Silbe bestehen oder die aus mehr als drei Silben zusammengesetzt sind? Nun, da muss man eben zwischen dem Versfuß und dem Wortfuß unterscheiden. Ein Versfuß muss sich keineswegs an Wortgrenzen halten.
Hier mal ein Satz mit einem sechssilbigen, einem einsilbigen und einem zweisilbigen Wort:
(1) Versammlungsverbote sind ätzend.
Diesen Satz kann man rhythmisch als drei Amphibrachien auffassen, wobei das erste Wort aus zwei Amphibrachien besteht und der dritte Amphibrachys sich dann auf zwei Wörter aufteilt. Hier fallen also Wort- und Versfüße nicht zusammen.
Hier nochmal ein Beispielsatz aus drei Amphibrachien, diesmal fallen aber die Vers- und Wortfüße zusammen. Jedes Wort ist dreisilbig und besteht genau aus einem Amphibrachys:
(2) Poeten verachten Verbote.
Der zweite Beispielsatz klingt, vor allem wenn er sehr betont gelesen wird, ziemlich gravitätisch und rhythmisch sehr fest gefügt, vielleicht sogar ein bisschen steif. Der erste Beispielsatz hingegen liest sich beinahe wie ein normales, ungebundenes Sprechen, er wirkt dadurch nicht ganz so eindringlich, aber recht beweglich und natürlich.
Grundsätzlich wird empfohlen, beim Schreiben in gebundener Sprache darauf zu achten, dass die Versfüße nicht allzu eng mit den Wortfüßen zusammenfallen. Wenn man so etwas wie den Beispielsatz 2 nicht nur in einer Zeile fabriziert, sondern eine ganze Strophe oder gar ein ganzes Gedicht lang die Wort- und Versfüße zusammenfallen lässt, klingt es sehr schnell total mechanisch und wirkt dadurch im doppelten Wortsinn komisch. Man spricht bei zu großer Übereinstimmung von Wort- und Versfüßen von "klappernden Versfüßen".
Weil das Deutsche meist auf der ersten Silbe betont, ist diese Gefahr des "Klapperns" besonders groß, wenn man als Versfuß einen Trochäus verwendet und hauptsächlich mit zweisilbigen Wörtern operiert. Das sollte man wirklich nur tun, wenn man absichtlich etwas Lustiges schreiben will, keinesfalls wäre so ein "Geklapper" empfehlenswert, wenn man etwas Ernsthaftes zum Besten geben möchte.
Und jetzt gibts erstmal nochmal eine Pinkel- und Zigarettenpause für das erschöpfte Publikum.