Autor Thema: Nichts  (Gelesen 1288 mal)

UniquePanda

Nichts
« am: Juni 08, 2020, 19:29:13 »
Keine große Rede schallt von Häuserwänden wieder,
denn die Wahrheit hat schon längst ihr Twitter-Profil gelöscht.
Hin und her und auf und nieder
gehen stumm die Massen,
so als wär ein Zaun um sie und sie im Zoo gefangen.

Hin und wieder ballen Hände und die Massen sich zusammen,
auf und nieder schallen Chöre, die meist schwach die Wände rammen.
Selten werden Schreie lauter, doch kann Schmerz bahnbrechend sein,
zwischen Stimmen züngeln Flammen, selten brechen Wände ein.

Hinter bröckelnden Fassaden lachen stumm die feinen Herren,
notfalls muss man nur die eine oder andre Straße sperren.
Doch alle Wege führn zum Ende, im Zoo versagt der Arterhalt
und irgendwann ist nichts mehr da von dem noch etwas wiederschallt.

AlteLyrikerin

Re: Nichts
« Antwort #1 am: Juni 09, 2020, 12:14:46 »
Hallo UniquePanda,

das Beschriebene wirkt gespenstisch und beängstigend auf mich. Sinnlose Proteste, über die feine Herren nur stumm lachen. Wenn es ohne Abstriche immer genau so wäre, könnte man zynisch werden, oder hedonistisch.
Ich hoffe, ich lese Deine Verse falsch. Jedenfalls hoffe ich, dass sie sich in der Zukunft als unwahr erweisen werden, so gut sie auch geschrieben sind.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: Nichts
« Antwort #2 am: Juni 09, 2020, 12:45:30 »
Hi UP!

Wie anderswo schon erwähnt: Machen gehobene Sprache und dann und wann eine kleine Inversion schon Lyrik? Schreibt man deinen  - inhaltlich ja durchaus gelungenen - Text einfach in lange Prosazeilen, wäre er genau das: Prosa.

Ich habe halt einen recht altmodischen Lyrikbegriff, und du bist natürlich keinesfalls auch nur irgendwie verpflichtet, ihn zu bedienen - aber hast du es schon mal mit Metrum und Reim versucht? Literarisch sehe ich durchaus Potential.

Zum Inhalt:

Es ist leider ein Symptom jeglicher menschlichen Kultur, dass sie irgendwann dekadent wird, den Wohlstand und die Sicherheit, den ihre Machtposition ihr sichert, für selbstverständlich hält, oder sich als elitär betrachtet und anderen den Anspruch auf dasselbe abspricht. Dann kommen meist Narren an die Macht, die das System bewusst oder unbewusst demontieren und diskreditieren, und dann kommt unweigerlich wieder eine "dunkle Phase" mit Diktatur, Terror, Gewalt und Krieg.
Geschah mit dem alten Ägypten, dem alten Rom - und es wird auch mit unserer Zivilisation so ablaufen. Der einzige Unterschied ist, dass die Strukturen immer größer werden und immer mehr Menschen in die Dunkelheit reißen, wenn sie zerfallen.

Wir sind gerade wieder mal dabei, die Lehren der Geschichte zu vergessen, da können sie noch so viele Geschichtsdokus zeigen - die Leute, auf die es ankäme, haben sich noch nie für Bildung interessiert - leider!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

UniquePanda

Re: Nichts
« Antwort #3 am: Juni 09, 2020, 18:32:05 »
Hallo AlteLyrikerin,

wenn du das so liest, dann wird da wohl auch etwas wahres dran sein. Danke für das Kompliment, trotz der beschworenen Gespenster!
Vielleicht ist es aber ja auch ganz gut, wenn am Ende keine Mauern mehr stehen, von denen etwas wiederhallen kann oder müsste.


Hallo eKy,

ohne das beleidigend zu meinen, muss ich sagen, da hast du mich jetzt fast ein bisschen enttäuscht!
Dein Lyrikbegriff mag altmodisch sein, aber eigentlich dachte ich, dass ich bei dem Text hier noch halbwegs moderat auch "konservative" Muster bedient habe. Mindestens der ein oder andere Reim ist doch zumindest drin.
Gegenfrage: Machen Reime und Metrum wirklich Lyrik?
Natürlich ist das eine alte Diskussion und mir ist schon klar, dass wir da sicherlich verschiedene Meinungen haben, aber ein wenig möchte ich den Text hier doch verteidigen, denn im Gegensatz zu einigen anderen meiner Texte ist dieser hier ja nicht mal ganz frei vom Metrum. Rhetorische Mittel gibt's ja auch noch dazu, sogar über die Inversion hinaus (wobei die natürlich nicht der Lyrik vorbehalten sind).
Grundsätzlich hast du aber natürlich recht, der Text entspricht keiner klassischen Gedichtform. Das literarische Potential lasse ich einfach mal so stehen. Wie käme ich dazu einem so erfahrenen Menschen, wie du es bist, da zu widersprechen  ;D ;D

Natürlich habe ich es auch schon mit Metrum und Reim versucht, sonst würde ich mich nicht trauen, anderes zu veröffentlichen. Für Metrik und Reim habe ich vor etlichen Jahren in den Foren ja auch schon genügend Lob und Kritik erhalten und mich auch viel damit beschäftigt und gelernt. Irgendwann wurd's mir zu langweilig. Wenn ich dann jetzt mal zum Schreiben komme, dann lasse ich im Zweifel einfach das Gedicht entscheiden, ob es etwas "modernes" oder etwas "klassisches" werden will. Vielleicht wird das nächste ja was für dich :D

Zu deiner inhaltlichen Anmerkung kann ich nichts hinzufügen. Gut gesagt. Im Sinne des Boards hier ("Im Gras wispert Hoffnung") versuche ich mir trotzdem immer ein wenig Hoffnung zu bewahren, dass es beim nächsten Mal doch etwas weniger schlimm wird oder es zumindest doch noch eine ganze Weile dauert bist dahin.


Danke euch beiden und liebe Grüße,

UniquePanda

Seeräuber-Jenny

Re: Nichts
« Antwort #4 am: Juni 10, 2020, 00:17:46 »
He did it again!

Lieber Marcel, herzlichen Glückwunsch zum ersten Gedicht nach deinem Comeback hier.

Die Zeilen muten expressionistisch an. Ähnlich wie damals leben wir auch heute in einer ungewissen Zeit. Vieles, was jetzt schon ist, wirkt bedrohlich (nicht nur Corona), und wir wissen nicht, was noch auf uns zukommt. Eine Zeit des Stillstands, ein "Weiter so"? Eine Zeit der Verelendung, große Wirtschaftskrise, autoritärer Überwachungsstaat, Aufstände, die Zerstörung der Natur, gar die Auslöschung der Menschheit? Oder endlich die Zeit, um Utopien in die Tat umzusetzen, die Erde zu retten, Waffen zu verschrotten, den Rassismus auszurotten, den Reichtum gerecht zu verteilen? Alles ist möglich.

Zur Form:

S1 fällt aus dem Rahmen, weil sie keinem Metrum gehorcht. Aber das ist vielleicht beabsichtigt, gewissermaßen als Intro.

Die letzte Zeile müsste eigentlich korrekt lauten:

so als wär ein Zaun um sie und als wären sie im Zoo gefangen

S2 + S3 sind im Paarreim geschrieben. Die letzten beiden Zeilen fallen aus dem Metrum, weil du hier statt des Trochäus den Jambus verwendest, d.h. du beginnst statt mit betonten mit unbetonten Silben. Das ließe sich leicht ändern:

Alle Wege führn zum Ende, im Zoo versagt der Arterhalt.
Irgendwann ist nichts mehr da, von dem noch etwas widerschallt.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz