Haben oder Sein

[AlteLyrikerin]

(Dankbare Erinnerung an Erich Fromm)


Ich möchte Fragezeichen sein
vor den rigorosen Entscheidungen,
das Zarte, das sich keiner
stolzen Gewissheit beugt.

Ich möchte das Lächeln sein,
das die Kränkung entwaffnet,
das Widerwort,
das die Entmutigten aufregt.

Ich möchte das große Schweigen sein,
in dem die Propheten der Macht
verstummen.

Ich möchte das Staunen sein,
das nichts zergliedern und bewerten muss.
Ich möchte sein.

[Erich Kykal]

Hi AL!

Gefällt mir inhaltlich sehr gut, nur das "aufregt" (S2Z4) hätte ich anders formuliert. "Jemanden aufregen" steht ja eher in der negativen Bedeutung, jemandem auf die Nerven zu gehen. Etwas wie "ermutigt" gefiele mir an nämlicher Stelle erheblich besser.

Gern gelesen!

LG, eKy

[AlteLyrikerin]

Hi Erich,

gerade das Verb aufregen statt ermutigen habe ich bewusst nach langem Nachdenken gewählt. Entmutigte neigen nach vielen scheinbar sinnlosen Kämpfen irgendwann zum Aufgeben. Ich höre dann immer solche Sätze wie "Das war schon immer so. / Der Ober sticht den Unter, da kannst Du nichts machen". Eine Aufregung bzw. Erregung wünsche ich mir dann, die den Mut, die Vision neu befeuern. Ermutigung schien mir da einfach zu sanft bzw. zu neutral.
Vielen Dank für Deinen Kommentar, AlteLyrikerin.

[Eisenvorhang]

Ich war extrem aufgeregt als ich auf meine neue Fender Telecaster (Gitarre) warten mussten.
Ich finde das passt gut.

Eine Frage AltyLyrikerin:

Wie ist die Verbindung zwischen Widerwort und entmutigt zu verstehen?

Der letzte Vers enthält einen gefährlichen Anspruch:
Ich möchte sein. Wer ist, der strebt und wer strebt, der sucht Glück.
Das Lächeln, das die Kränkung entwaffnet finde ich wunderschön!

[AlteLyrikerin]

Lieber Eisenvorhang,

wie klingt Deine neue Guitarre? Bei akustischen Guitarren sind ja Holz und kunstvolle Bauweise Elemente, die den Klang beeinflussen. Bei elektrischen oder solchen mit Abnehmern für Verstärker hängt ja so ungeheuer viel vom technischen Equipment ab. Da kenne ich mich nicht so gut aus. Jedenfalls wünsche ich Dir viel Freude mit Deinem Instrument! Du fragst,

Wie ist die Verbindung zwischen Widerwort und entmutigt zu verstehen?

Das Widerwort richtet sich gegen die Argumente der Entmutigten, man müsse aufgeben, weil man eh nichts machen könne. Weil es schon immer so war, dass die Ohnmächtigen keine Chance haben. Statt dessen sollen sie aufgeregt bzw. angeregt werden ihre Visionen ernst zu nehmen und zu leben. Dabei denke ich auch an - allerdings gewaltlosen - Widerstand, an Verweigerung und Gemeinschaften, die alternative Lebens- und Wirtschaftsmöglichkeiten ausprobieren.

Herzlichen Dank für Deinen Kommentar, AlteLyrikerin.

[Eisenvorhang]

Liebe AlteLyrikerin,

das ist meine neue: https://www.youtube.com/watch?v=stndL2ZedPg
Sie ist primär für Blues und Jazz gebaut. Ich mag den Klang ab eine Minute und zwei Sekunden im Video.

Alles klar und danke für Deine Erklärung!
Manchmal sehe ich mich in einem Kloster.. 
Weg von dem weltlichen Irrsinn.

Ich nehme mir gleich dein anderes Gedicht vor.

vlg

EV

[Sufnus]

Liebe AL!
Gefällt mir ausgesprochen gut, Dein Sonett! (nicht ärgern lassen, eKy )
Ist die äußere Form zufällig so entstanden oder war das bewusst so angeordnet?
An einigen, ganz wenigen Stellen, könnte m. E. das Gedicht noch von etwas mehr "Spiel" in der Gedankenführung profitieren, gerade, wo doch mit dem Fragezeichen so ein schwer fassliches Ding als Ausgangspunkt (??) gewählt wird.

In der Hoffnung, nicht zu viel zu zergliedern und zu bewerten hier eine Beklugfummelung:

Ich möchte Fragezeichen sein,
vor und hinter jedem Urteil stehen,
die Krümme des Gedankens, die sich
keiner Gewissheit beugt.

Ich möchte das Lächeln sein,
das die Kränkung entwaffnet,
das Widerwort,
das die Entmutigten aufregt.

Ich möchte das große Schweigen sein,
in dem die Propheten
verstummen dürfen.

Ich möchte das Staunen sein.
Ich möchte letztendlich das Staunen sein.
Ich möchte sein.



LG!

S.

[Eleonore]

*mags auch sehr* - Alte Lyrikerin

nur kurz, weil "vibbrig" (so viel zu tun heute noch):

aufregen im Sinne von aufrütteln, aufscheuchen ....
finde ich hervorragend.

Zum Rest schreibe ich mit mehr Muse.

Ach ja noch: "Haben oder Sein" war DIE Offenbarung schlechthin - ich las große Teile daraus während langer Wartezeiten auf eine vielgeliebte Person. Erich Fromm stieß nicht nur Türen, sondern ganze Türfluten auf . Danke fürs Erinnern.

Herzlich

Eleonore

[Eleonore]

So - nun aber:

Keine Gewissheit haben, nicht in Schubladen stecken, offen bleiben

beschreibst Du mit diesen Zeilen:

Ich möchte Fragezeichen sein
vor den rigorosen Entscheidungen,
das Zarte, das sich keiner
stolzen Gewissheit beugt.

Vor und hinter jedem Urteil stehen, wie Sufnus meint, gefällt mir ausnehmend gut als Alternative
und impliziert für mich,
dass eineR schon in Gedanken offen bleibt, nicht wertet.
Deine Zeilen bedeuten für mich,
dass erst mit einem Tun gewertet wird - ent-schieden wird.

Das Lächeln, das die Kränkung entwaffnet -
treibt mir die Tränen in die Augen.
Ich scheine wohl viel Derartiges beobachtet und erlebt zu haben.
Wundervoll, wenn eineR dabei steht, der lächelt, wenn das geschieht.
In den Arm nehmen ist noch schöner.
Verhindern wäre das Optimum und ist so schwer, oft.

Die Widerworte,
wie oft sind sie von Nöten
und wie oft werden sie niedergeschlagen,
die kleinen Revolutionen -
bis hin zum Stillstand, zur Vernichtung des Mutes.
Wie mag da ein entmutigtes Herz sich regen, neu regen, aufregen,
wenn ein anderer Ton zu hören ist im Außen. Die Klangschale des Widerwortes angeschlagen wird .....

Die Propheten -
haben sie nicht meist Schreckliches voraus gesagt?
Die überfluteten Seelen derer, die ständig Unheil voraussehen, nicht Ruhe geben mögen --
ja, wie gut, wenn sie ausruhen dürfen. Endlich. Im Schweigen.

Und schlußendlich Staunen
um zu SEIN.
Endlich zu sein.

Ein schönes sehr innerliches Gedicht.
Ich mag es sehr.

Herzlich

Eleonore

[AlteLyrikerin]

Liebe Eleonore,

herzlichen Dank für Deine ausführlich Antwort. Du schenkst mir damit etwas, was wir ja ganz selten bekommen, eine genaue Beschreibung, wie das Gedicht auf Dich wirkt, wie Du seine Metaphern interpretierst, was Du Dir ganz persönlich daraus nimmst. In vielem entsprechen Deine Interpretationen genau dem, was ich sagen wollte, in manchem nicht, und das ist auch ganz wunderbar, weil es die Weite eines Textes zeigt, der immer noch mehr und anderes enthält als der Autor hineinzulegen meinte.
Liebe Grüße, AlteLyrikerin.

[Eleonore]

Liebe Alte Lyrikerin,

was Du als Geschenk empfindest,
empfinde ich eher als Schwäche.

Denn - ich finde die Worte die "oben drüber stehen" (weiß nicht, wie man das nennt)
und einen Sachverhalt / Stimmung usw. beschreiben
oft nicht.
Sondern ...trabe wie ein Büffel in den Fußstapfen des Gedichtes.

Vllt. darf ich anfangen,
mein büffelhaftes Wesen doch mehr zu schätzen   

liebe Grüße

Eleonore

[AlteLyrikerin]

"Büffelhaftes Wesen"?? Wenn Du es so nennen möchtest, kann ich Dich nicht hindern. Aber dann wünsche ich mir mehr solche "Büffel" für die Lektüre meiner Gedichte.

Herzliche Grüße nach Regensburg! AlteLyrikerin.