Schon lange her
Die erwachsene Tochter Desiree hat für die Eltern beim Arzt Rezepte abgeholt, jetzt in der Corona-Krise. Die Frühlingssonne erleuchtet den Morgen, die Vögel zwitschern in den Bäumen, die sich zaghaft belauben. Als wäre nichts. Als wäre alles wie immer.
Desiree betritt die Apotheke, um rasch die Rezepte einzulösen. Sie ist eilig, hat eigentlich Home-Office. Mühsam hat sich ihre Mutter nach ihrem Umzug in diese Stadt vor etwas über einem Jahr das gute Verhältnis zu dieser Apotheke aufgebaut.
Die Apothekerin hält das Rezept in den Strahl einer der grellen, kalten Deckenleuchten. „Das gibt es doch nicht! Der Arzt hat ja nur zwanzig Tabletten aufgeschrieben!“. „Tja,“ sagt Desiree lakonisch, „Monats- und- Quartalsende.“ Eine Kollegin kommt hinzu, schüttelt den Kopf.
Die Apothekerin fragt nach dem Dackel, weshalb man die Eltern nicht mehr mit ihm spazieren gehen sehe. „Schlechtes Thema, ganz schlechtes Thema,“ antwortet Desiree traurig. “Janosch ist letzten Sommer gestorben. Meine Mutter kommt nicht drüber weg.“ „Ist doch schon so lange her,“ murmelt die Kollegin.
Die Apothekerin wendet wortlos das Rezept in ihrer Hand. Dann entscheidet sie, gegen Zuzahlung von drei Euro eine Hunderterpackung auszuhändigen. Die anderen Kunden halten geduldig zwei Meter Abstand. Der Mann hinter Desiree lächelt und schaut beständig auf den kleinen Terrier, den er draußen angeleint hat.
Die Kollegin rollt die Augen, als die Apothekerin, bevor sie kassiert, in den Frühstücksraum huscht. Es fiept etwas dort und es hört sich an wie ein junges Hündchen.