Der Ast
Sie war ein lebensbejahender Mensch, eine Optimistin. Stark und verantwortungsbewusst für die, die ihr anvertraut waren. Und für die, die sich ihr anvertrauen wollten, weil sie irgendwie immer abzurutschen drohten auf der schmalen Klippe des Daseins. Ja, sie war eine Kämpferin. Ihr Leben lang schon. Eigentlich.
Immer öfter aber ertappte sie sich neuerdings dabei, wie sie in die nackten Winterbäume schaute, wenn sie auf dem Balkon saß. Wie sich eine seltsame Traurigkeit anschlich im Grau des Morgens, das sich über den Tag ergoss. Sie beobachtete die Elstern, die hoch oben in der Pappel ein Nest bauten. Sie wusste, sie durfte sie nicht nisten lassen, diese Traurigkeit.
Die laublosen, dürren Zweige der Bäume wedelten sacht im Wind. Wie entblößt standen sie da, die alten Riesen. Verletzlich. Sie bogen sich mit dem Wind, sie hatten gelernt, dass sonst die Zweige schmerzhaft brechen. Hatte sie selbst auch gelernt?
Der letzte Sturm hatte dennoch einen kräftigen Ast zertrümmert. Einen von den Starken. Hilflos hing er noch wie am seidenen Faden am Stamm. Sein helles, rindenloses Holzfleisch schrie lautlos. Wie gerne hätte sie den Ast abgerissen und erlöst, aber er hing zu hoch. Sie schaute auf die große Wunde und fühlte mit. Er kann nicht loslassen und kann doch nicht bleiben, dachte sie.
Letztens noch hatte ein kluger Freund gesagt: Dein Leid entsteht dadurch, dass du am Leben teilnimmst und meines dadurch, dass ich mich davon zurückgezogen habe. Mögen wir beide daran wachsen.