Liebe Agneta & eKy!
Da hab ich ich in der Tat mal an etwas stärker hermetischen Zeilen versucht, die sich dem Verständnis entgegenstemmen.
Dein Zugang, Agneta, den Text einfach wirken zu lassen, also die emotionale Schwingung aufzunehmen, ohne den Versuch der exakten und eindeutigen Entschlüsselung zu unternehmen, ist genau das, was diese speziellen Zeilen sich vom Leser "wünschen".
eKy, Du gehst in Deinem Lesezugang grundsätzlich eher vom Verstand und Verständnis aus; das ist ganz wunderbar und schlägt sich in Deinen Vorlieben und Deinen eigenen Texten nieder, die sich immer bemühen, dem Leser eine Brücke zu bauen und ihn zum Verstehen einladen. Es macht Deine Lyrik im besten Sinn zugewandt.
Übrigens hast Du, Deinen Lesezugang auf "In Memoriam" anwendend, den "Sinn" genau erfasst, was zeigt, dass meine Zeilen kein vollkommen hermetischer Text sind, wie z. B. einige extreme Beispiele bei Celan (nicht seine Todesfuge, die ist vom Sinn her weitestgehend klar entschlüsselbar).
Die Frage bleibt jetzt natürlich, ob man (mehr oder weniger) hermetische Texte überhaupt "braucht", also Werke, die nicht in eine klare Aussage übersetzt werden können, sondern dem Verstand unzugänglich bleiben.
Eine meist anerkannte Variante hermetischer Literatur sind Unsinnstexte, die eine komische Wirkung entfalten wollen. Man kann hier die mittelalterlichen Fatrasien als bekanntes Beispiel aufführen und späterhin z. B. auch viele auf Komik abzielende Surrealistische und Dadaistische Texte. Gerade bei Komik ist das natürlich vornehmlich eine Geschmacksfrage, der eine mag es, der andere nicht. Da ist also durch eine Diskussion wenig zu gewinnen.
Ergiebiger finde ich den Aspekt der "ernsthaften" hermetischen Texte. "Bringen" Texte irgendetwas, wenn sie völlig unverständlich sind - und zwar nicht etwa, weil sie eine hohe Vorbildung einfordern oder Spezialwissen ausbreiten, sondern schlicht und einfach, weil sie sich der Logik und dem normalen Sprechen und Denken entziehen.
Hier mal ein Beispiel dazu, ein Textauszug von Rilke:
Ach und um diese
Mitte, die Rose des Zuschauns:
blüht und entblättert. Um diesen
Stampfer, den Stempel, den von dem eignen
blühenden Staub getroffnen, zur Scheinfrucht
wieder der Unlust befrucheten, ihrer
niemals bewussten, - glänzend mit dünnster
Oberfläche leicht scheinlächelnden Unlust.Sind also nun solche Texte "zu etwas Nütze"?
Ich denke, das sind sie durchaus. Sie erweitern die Möglichkeit, mit Hilfe von Wörtern etwas auszudrücken, was mit "normaler" Sprache nicht auszudrücken ist. Die Befähigung zur Sprachproduktion hat den Menschen um unendlich viele Möglichkeiten des Ausdrucks erweitert, sie hat ihm aber auch in mancherlei Hinsicht den Zugang zu Vor-Sprachlichen Inhalten entzogen.
Ein berühmtes Beispiel (von Peter von Matt im Band "Die verdächtige Pracht" trefflich analysiert) ist der Schrei, der ja weit mehr als nur schieres Entsetzen oder Zorn oder Freude ausdrücken kann, sondern unendliche Schattierungen des Gefühlserlebens vermittelt. Und doch kann der Schrei nicht "aufgeschrieben" werden. Natürlich sind "Aaaah" und "Oh" und "Aiiiiii" mögliche Notationen für den Schrei und doch bleiben sie blass gegenüber dem tatsächlichen Ereignis. Und natürlich kann der Schrei mit Vergleichen umschrieben werden... "wie eine gequälte Kreatur", "wie ein brüllender Ochse", "geradezu klirrend wie zerspringendes Glas" - aber mit diesen Umschreibungen wird das Ereignis des Schreis zu einem verstandesmäßig analysierbaren Objekt und verliert viel von seiner Unmittelbarkeit.
Ein anderes Element des menschlichen Seelenlebens, das sich der Sprach-Eindeutigkeit entgegenstemmt, ist das gleichzeitige Empfinden widerstreitender Gefühle:
"Ich liebe und hasse. Aber warum bloß? Ja, das wüsstest Du gern!
Doch ich bin ratlos. Es kreuzigt mich." (Catull)Natürlich lässt sich so etwas durch Oxymora und Paradoxien in die Sprachlichkeit zwingen - aber hierbei gehen Nuancen verloren und außerdem wird dabei für den Außenstehenden bereits der Keim der Unverständlichkeit gesät.
Gelichteter Schmerz
Aus Sonne und Schwarz hab ich mir
ein kinderblaues Kleid gemacht, die
lächelnde Trauer übergestreift, damit
mich niemand sehen kann, und bin so-
weit und suche dich
endlich heim.Diese Zeilen - nur eine Etüde - sind zwar noch grob verständlich, aber doch dem normalen Reden bereits stark entzogen, weil hier der Versuch unternommen wird, zwei unvereinbare Gefühle, Trauer und erinnernde Dankbarkeit, unter einen Hut zu bekommen.
Sollen nun noch komplexere, vor-sprachliche Elemente des menschlichen Seelenhaushalts mit Hilfe von Wörtern angedeutet werden, löst sich die Eindeutigkeit und Allgemeinverständlichkeit der Sprache zusehends auf und am Ende bleibt nur noch eine Gefühlsübertragung. Diese Tatsache ist - so denke ich - der Schlüssel für die Begründbarkeit und Wertigkeit "unverständlicher" Literatur: Wenn es zu einer Übertragung von Gefühlen, zum Berührtsein des Lesers kommt, dann hat - zumindest das in Frage stehende literarische Werk für diesen einen, berührten Leser seine "Sinn"-Funktion erfüllt.
... soweit ein paar Gedanken zum Thema der Obskurität in Gedichten... ein Dankeschön an jeden, der bis hierher durchgehalten hat.
S.