Autor Thema: Zu Grunde gehn  (Gelesen 784 mal)

Eleonore

  • Gast
Zu Grunde gehn
« am: September 27, 2019, 23:38:48 »
Zu Grunde gehn

Wenn ich so wollte
wie ich könnte

zauberte ich einen Brunnen,
auf dessen Grund ein Wort wohnt
oder zwei.
Viele gar? Güldene?

In einem hölzernen Trog
könnte ich
ein Gedicht bergen

und es im Altweibersommer
auf die Burgmauer legen.

Als die Schwalben
in den Süden zogen,
blieb eine Kette aus Bernstein zurück.
« Letzte Änderung: September 29, 2019, 12:53:17 von Eleonore »

Sufnus

Re: Zu Grunde gehn
« Antwort #1 am: Oktober 02, 2019, 17:03:01 »
Hi Eleonore!
Ich weiß nicht ganz genau, was diese Zeilen bedeuten, aber sie berühren mich und ich mag ihre teilweise Inkommensurabilität ("Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser" - Goethe).
Manches bleibt im Bild: Ein alter Brunnen mit einem versteckten (güldenen) Schatz auf dem Grund (vgl. den doppeldeutigen Titel), ein hölzerner Trog (ein gar altmodisches Ding), die Burgmauer. Da sind wir im Märchenland, vielleicht steht auch eine Burgruine Pate für die Bilder. Die Schwalben und die Bernsteinkette fallen bringen weitere Ebenen ins Spiel. Der Zug der Schwalben ist ein lyrisch bewährtes Motiv für Vergänglichkeit und zyklische Wiederkehr. Die Bernsteinkette kommt mir persönlicher vor, sieh gehört nicht zur metaphorischen "Standardausrüstung" in der Lyrik. Man kann an Insekten oder Pflanzenteile denken, die im Bernstein konserviert sind, zwar tot aber auch vor dem Zerfall geschützt.
Diese Zeilen wecken große Lust bei mir, mehr von Dir zu lesen! :)
Lg,
s.

Agneta

  • Gast
Re: Zu Grunde gehn
« Antwort #2 am: Oktober 03, 2019, 21:17:14 »
Liebe Eleonore,
Worte als Schatz, der in einem Brunnen geborgen, versteckt wird. Etwas Gutes, gute Worte. Die sich sogar in einem Kästchen wie teurer Schmuck im Brunnen verbergen lassen.
Wenn ich so wollte, wie ich könnte- Wortdreher oder gewollt? LI will also  nicht. Es könnte mit seinen Worten einen Schatz haben, schaffen (Gedicht), aber es will nicht. Weshalb es nicht will, bleibt offen .
Vielleicht mag auch der Schwalbenzug der Vergänglichkeit ( was bringt es, Worte zu verdichten), dann sie lieber als Schatz hüten, eine Erklärung bieten.
Die Bernsteinkette: Bernstein hat etwas Magisches, er sieht aus, als habe er die Sonne eingefangen. Bezug zu gülden? Aber er ist auch als Harz Falle für Insekten, die er einschließt. Er ist nicht wertvoll. Obwohl er so aussieht, ist er kein Edelstein.
Es gibt sicherlich Mythen und Legenden um den Bernstein, den ich übrigens sehr mag. Leider sind mir diese, da ich nicht von einem Ort komme, wo dieser beheimatet ist, nicht bekannt. Auch hier könnte nochmal eine Erklärung liegen.
Geheimnisvoll, atmosphärisch, gern gelesen, liebe Eleonore.
LG von Agneta

Eleonore

  • Gast
Re: Zu Grunde gehn
« Antwort #3 am: Oktober 05, 2019, 18:27:52 »
Hallo Sufnus

und Danke für Deine Würdigung.
"Inkomnensurabel" bedeutet also ein "Nicht-zusammengehen"? Verstehe ich das richtig?
Das würde ja auf das "kompakte" Erstbild (Brunnen / Trog / Güldenes) zutreffen, das sich nicht so ohne Weiteres zum Vogelzug und der Bernsteinkette gesellt.
Der Bruch ist mir wohl bewusst - drängte sich aber auf, als ich von der inneren Ebene, in der das Gedicht entstanden ist (also verschlüsselte Wirklichkeit) auf die äußere übersprang, aus der das Gedicht heraus kam - also der realen Wirklichkeit.

Stört denn nicht, dass der Vogelzug in der Vergangenheitsform steht ?

Liebe Agneta
auch Dir Danke für Deine Würdigung.
Der Wortdreher ist bewusst gesetzt. Verweigerte Sprache.
Den Anstoss - und nur diesen - zum Gedicht hast du gesetzt, durch Dein "Insistieren", ich möge schreiben.
Ich mochte aber nicht. Und so dichtete sich dies .... -- schnell war es aber auf mehreren Bedeutungsebenen unterwegs, die mich selber überraschten.
Ich habe momentan einen großen Verlust zu verarbeiten, was mir unglaublich schwer fällt.
Durch das Dichten kommen ich ein wenig an meine Gefühle heran.

liebe Grüße

Eleonore

Sufnus

Re: Zu Grunde gehn
« Antwort #4 am: Oktober 07, 2019, 18:13:58 »
Hey Eleonore!
Inkommensurabel im vom Geheimrat gebrauchten Sinn bedeutet unfasslich, nicht (mit dem Verstand) ergründbar. :) Und diese Inkommensurabilität ist ein häufiges Phänomen in der Lyrik - nicht nur in der modernen. Natürlich zeichnet sich wohl gerade die moderne Lyrik häufig durch eine gewisse Verweigerungshaltung gegenüber verstandesmäßiger Entschlüsselung aus, was häufig für Verdruss beim ungeübten Leser sorgt, aber auch für Verzweiflung bei Schülern, die von fiesen Deutschlehrern gezwungen werden, sich auf hermetische Verse "einen Reim" zu machen ("was will der Autor damit sagen?!").
Die Unentschlüsselbarkeit von Lyrik hat aber, wie das bekannte, obige Goethezitat beweist, auch schon früher ihre Anhänger gehabt und in der Tat ist ja manches Poem von Goethe interpretationsmäßig durchaus herausfordernd. Aber man kann viel weiter zurückgehen... zur Nonsenslyrik beispielsweise, die sich großer Beliebtheit erfreut wohl seit es Gedichte gibt - man denke an die mittelalterlichen Fatrasien (siehe Wikipedia)... aber ich schweife ab... ;)
Bei Deinen Zeilen haben wir es natürlich nicht mit hermetischer (also völlig unentschlüsselbarer) Lyrik zu tun, aber es wird offenkundig kein kohärentes Bild beschrieben oder eine Begebenheit erzählt, sondern es werden Fragmente und Einzelelemente aneinander gereiht, die allerdings durchaus nicht unverbunden nebeneinander stehen (wie beim expressionistischen Reihungsstil), sondern assoziativ mit einander verknüpft sind, wenn man einmal von den Schwalben absieht, die ein neues Element einfügen und der Bernsteinkette, die mit dem Thema "Schatz" zumindest nur sehr locker korrespondiert.
Wie ich sagte, mir gefällt das sehr! :)
Lg,
S.
« Letzte Änderung: Oktober 07, 2019, 20:00:12 von Sufnus »

Eleonore

  • Gast
Re: Zu Grunde gehn
« Antwort #5 am: Oktober 12, 2019, 20:48:33 »
Hallo Sufnus
und Danke für Deine Erläuterung.

Dass Lyrik nicht mit dem Verstand zu begreifen ist,
habe ich schon oft erlebt.
Es scheint mir manchmal gar,
als wäre es eine Art Landkarte,
die über die herkömmliche Welt gelegt würde und dort ihre ganz eigenen Bezüge entwickele.

Ähnliches empfand ich mal,
als ich ein Traumtagebuch, das ich sehr pflichtbewusst und regelmässig geführt hatte über Jahre hinweg,
lange Zeit später nochmal las.

Danke für Deine nochmalige Würdigung jedenfalls.

LG Eleonore