Autor Thema: Unsagbare Welt  (Gelesen 771 mal)

wolfmozart

Unsagbare Welt
« am: August 31, 2019, 10:15:38 »
Kein Wort kann ich Dir sagen
Kein Laut verlässt meinen toten Mund
Unsagbare Welt muss ich ewig in mir tragen
Sprachlose Fülle gräbt meine Seele wie wund!

Erich Kykal

Re: Unsagbare Welt
« Antwort #1 am: August 31, 2019, 11:22:40 »
Hi WW!

Stimmig, bis auf die letzte Zeile:

Entweder: "Sprachlose Fülle gräbt meine Seele wund."

Oder: Sprachlose Fülle macht mir die Seele wund."

Oder: "Sprachlose Fülle reißt meine Seele wund."

Das "wie" würde ich in jedem Fall weglassen - denn eine so "verletzte" Seele ist ja nicht "wie" wund, sondern wirklich!


Die Metrik:

Kein Wort kann ich Dir sagen
Kein Laut verlässt meinen toten Mund
Unsagbare Welt muss ich ewig in mir tragen
Sprachlose Fülle gräbt meine Seele wie wund!

xXxXxXx
xXxXxxXxX
XxXxXxxXxXxXx
XxxXxxXxXxxX

Ich hab die sich häufenden Senkungspralle mal fett unterlegt - du scheinst hier vom Jambischen ins Daktylische gleiten zu wollen. (Jambus: (x)XxXxXxX(x), Daktylus: (x)XxxXxxXxxX(x) - große X sind Hebungen (Heber), kleine x sind Senkungen der Sprachmelodie, also betonte oder unbetonte Silben)


Solltest du nach einer metrisch ausgewogenen Variante suchen, oder hier nur zum Vergleich:

Sechshebig:

Kein einziges vertrautes Wort kann ich dir sagen,
kein Laut verlässt den seltsam wundertoten Mund.
Die ungesagte Welt, ich muss sie in mir tragen,
und sprachlos gräbt die Fülle mir die Seele wund.

Fünfhebig:

Kein einzig Wort kann ich dir zärtlich sagen,
kein Laut verlässt den seltsam toten Mund.
Die ungesagte Welt muss ich ertragen,
und ihre Fülle reißt mich innen wund.

Vierhebig:

Kein liebes Wort kann ich dir sagen,
kein Laut verlässt den toten Mund.
Das Ungesagte muss ich tragen,
und seine Fülle macht mich wund.

Dreihebig:

Kein Wort kann ich dir sagen,
und Laute schluckt der Mund.
Die Ungesagten ragen
in mich, entseelt und wund.



Gern gelesen und damit gespielt!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: August 31, 2019, 11:26:29 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Unsagbare Welt
« Antwort #2 am: September 04, 2019, 14:15:21 »
Hi Wolf,
ich glaube, dass Dir die ganz kurze Form, wie bei diesem Vierzeiler, entgegen kommt. Dieses Gedicht empfinde ich als durchaus anregender als einige Deiner längeren Verse.
eKy hat schon sehr schön den Aspekt des Metrums dargestellt. Da ist Dein Ausgangstext meines Erachtens noch etwas zu unreflektiert. Es ist natürlich Geschmackssache, ob man seinen Text metrisch regelmäßig gestalten will, wie eKy das wunderbar mit Deinem Textmaterial demonstriert hat oder ob man lieber das "normale" gesprochene Parlando nachahmen möchte und zu diesem Behufe Unregelmäßigkeiten, schwebende Betonungen (vgl. Wikipedia-Artikel hierzu) und ggf. auch Senkungs- oder gar Hebungspralle herbeiführt.
In Deinem Ausgangstext sind die metrischen Unregelmäßigkeiten aber meines Erachtens nicht herbeigeführt worden, sondern zufällig entstanden und zumindest in Z.2 klemmt das dann auch:
"Kein Laut verlässt meinen toten Mund" - wie eKy schon gezeigt hat ist hier die Metrik: xXxXxxXxX und dabei erzeugt der Senkungsprall von "...lässt meinen tot..." (XxxX) einen beinahe Jazz-artig wirkenden Hüpfer. Das kann man, wie gesagt, durchaus bewusst so machen, aber hier passt es überhaupt nicht zum "toten Mund" und es passt auch gar nicht zum gesamten Gedicht, dass das LI in einer um sich selbst kreisenden tödlichen Erstarrung befangen zeigt. Dieser metrische Hüpfer passt eher zu einer ganz bewegten Szenerie, aber hier gehört er nicht her und beweist, dass an dieser Stelle bei der Sprachführung der Zufall am Werk war.
Auch auf der inhaltlichen Ebene würde ich nochmal zur Reflexion raten. Das Gedicht kommt ja inhaltlich überhaupt nicht vom Fleck (das ist gar nicht schlecht!), sondern sagt in vier Zeilen im Prinzip immer das gleiche: "Mir fehlen die Worte und ich leide!". Das ist ein ganz interessantes poetisches Konstruktionsprinzip, aber auch hier glaube ich, dass das etwas zufällig zustande kam.
Das geht mir und jedem anderen Schreiberling übrigens ganz genauso: Man schreibt etwas hin, vielleicht dem Reim geschuldet oder einfach weil es einem durch den Kopf schießt und es war dabei primär gar kein planerischer Wille am Werk. Die Planung sollte dann aber danach einsetzen, indem man sich (kritisch!) über den eigenen Text beugt und sich frage: was habe ich da eigentlich gerade geschrieben? Kann man da was draus machen? Kann man da irgendwie anknüpfen?
Auf Deinen Text bezogen: Nachdem das Primärwerk - ich unterstelle eher etwas zufällig - ein gedankliches Auf-der-Stelle-Treten generiert hat, wie kann man das entweder ausbauen oder aber, im Sinne eines doppelten Bodens, konterkarieren?
Und zum Abschluss mal noch ein ganz pragmatischer, sehr simpel anmutender Tipp: In ersten lyrischen Entwürfen tendieren Verben oft dazu, relativ unpoetisch und banal zu sein. Wenn man hier nachbessert entsteht oft automatisch eine gewisse poetische Aufladung. Du hast in Deinem wirklich sehr kurzen Gedicht 6 Verben benutzt. Davon sind zwei Hilfsverben und deshalb per se schon poetisch schwach (kann und muss) und mindestens zwei weitere Verben sind ziemliche Allerweltswörter (sagen und tragen). Aber auch verlassen und graben sind nicht gerade sprachliche Aufreger. Hier könntest Du durch Weglassen von Verben oder, indem Du stärkere Vertreter ihres Fachs gebrauchst, deutlich an sprachlichem Gehalt zulegen.
Wenn Du literarische Anregungen brauchst: Ein Meister im Weglassen von Verben war Gottfried Benn, vor allem in seinen traditionell gereimten, aber nicht narrativen Gedichten (daneben schrieb er auch ungereimte Gedichte in einem schnoddrigen Alltagsjargon, wo sich durchaus schwache Verben tummeln, aber das ist wiederum ein anderer poetologischer Angang).
LG!
S.

wolfmozart

Re: Unsagbare Welt
« Antwort #3 am: September 07, 2019, 19:36:19 »
Hi Erich,
dank dir für deine ausführliche Auseinandersetzung meines kleinen Werkes.
-und für dein Lob das ich aus dem Mund eines Berufenen schätze.

Deine verschiedenen Vorschläge habe ich mit Interesse gelesen, nachfolgende Leser können dies ebenfalls tun.

Hi Sufnus,
dank auch dir für deinen umfangreichen Kommentar.
Also meine Gedichte entstehen alle aus einer "Eingebung" heraus (nichts Religiöses, eher etwas Psychisches). Da tu ich nachher nichts dran herumbasteln.
Wenn ich an einem Poem im nachhinein herumdoktern muss dann ist schon der Wurm drin und wird nichts Gescheites.
Ich les mir aber alle Alternativvorschläge und gut gemeinten Verbesserungen gern durch, lass alles Vorgeschlagene wohlwollend neben meinem stehn und übernehm manches als Version 2.0.
Wenn du selbst mehr den analytischen Stil bevorzugst beim Dichten - jeder nach seiner Manier.

Euch beiden liebe Grüße

wolfmozart
« Letzte Änderung: September 07, 2019, 20:12:46 von wolfmozart »