Autor Thema: Das alte Lied  (Gelesen 6592 mal)

Erich Kykal

Das alte Lied
« am: Oktober 06, 2018, 13:10:20 »
Die Bühne ächzt, die gleichen Puppen tanzen
seit abertausend Jahren ihre Kreise.
Gesichter wechseln zwar im großen Ganzen,
jedoch die Rollen nie, und deren Weise

darf sich nur unbelehrbar wiederholen,
in Wahn und Irrtum eisern zementiert,
und Gut und Böse gleichen blinden Polen,
erreichbar nie, doch immerfort zitiert.

Die Bühne ächzt, man zieht sich endlos weiter,
auch wenn man lange schon die Schritte kennt.
Die Wenigen, gereifter und gescheiter -
sie sind die Ketzer, die man heiß verbrennt.

Die Bühne ächzt, die Balken stöhnen müde,
doch alle Puppen trampeln viel zu laut,
und ohne Zeichen wächst die Attitüde
der Tänzer weiter, die kein Morgen schaut.

Im Grunde wissen alle, wie es endet,
und dennoch müssen alle weiterhetzen -
kein Einvernehmen, das die Karten wendet,
kein Innehalten lindert das Entsetzen.

Die Bühne ächzt, die gleichen Puppen tanzen
seit abertausend Jahren ihre Kreise.
Ich tanze nicht und packe meinen Ranzen
und schleiche von der Bühne, leise, leise ...
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Das alte Lied
« Antwort #1 am: Oktober 06, 2018, 18:26:55 »
Lieber Erich,

das scheint ein Bild von Menschheit zu sein, die immer wieder die gleichen Stücke spielt, ohne es zu merken. Entwicklung und Fortschritt sind so gesehen bloße Fiktion aus geistger Kurzsichtigkeit und nur der, der die ihm angebotene Rolle verweigert und die Gemeinschaft verlässt, kann eine gewisse Freiheit erlangen. Ich sehe das nicht ganz so.

Schön geschrieben und durch die Wiederholungen auch erlebbar gemacht. Sehr gern gelesen.

Liebe Grüße
gummibaum


Erich Kykal

Re: Das alte Lied
« Antwort #2 am: Oktober 06, 2018, 18:57:38 »
Hi Gum!

Meine Weltsicht ist eher zynisch geprägt, zeigen mir die Weltgeschichte aller Epochen wie die aktuelle Politik doch immer nach wie vor das ewig gleiche Stück in anderer Besetzung. Die einzigen Unterschiede: Die Nachrichten verbreiten sich schneller und weiter, und die modernen Waffen bringen mehr Menschen um.
Ansonsten unterscheidet die heutige Weltpolitik nichts von den Stammesfehden europäischer Bronzezeitler oder der präantiken mesopotamischen Stadtstaaten. Nur die Rahmenbedingungen sind andere ...

Ja selbst die Verhaltensmuster von Schimpansenhorden im Urwald, die um Gebiete und Einfluss rittern, oder deren Verhalten innerhalb der einzelnen Gruppen spiegeln das menschliche Verhalten von der Steinzeit bis ins Atomzeitalter! Kaum schmeichelhaft für ein Wesen, das sich als "vernunftbegabte" Krönung der Schöpfung betrachtet, als "Ebenbild seines Gottes"!  ;D ::)
Daran erkennt man: Vernunft ist seit jeher nur ein Mittel, um unsere unvernünftigen Entscheidungen vor uns selbst zu rechtfertigen. Denn Vernunft ist immer nur eine Frage des Blickwinkels, und der lässt sich allzu leicht verschieben!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Das alte Lied
« Antwort #3 am: Oktober 06, 2018, 21:19:12 »
Lieber Erich,

da hast du nicht Unrecht.

Die genetischen Anlagen haben sich nicht wesentlich geändert seit der Menschwerdung, damit liegt schon der größte Teil des Verhaltens fest. Wenn demnächst das menschliche Genom technisch manipuliert wird, gehen Art-Entwicklung und Verhaltens-Entwicklung potentiell schneller. An diesen Wendepunkt hat uns hauptsächlich die Kultur gebracht. Er liegt vom Schimpansen ein paar Millionen, vom Menschen der Stein- oder Bronzenzeit ein paar Tausend Jahre entfernt. Nicht der einzelne Mensch hat sich merklich gewandelt, aber der geistige Besitz der Gesamtheit, dessen Basis breiter und dessen Gipfel höher geworden (und damit immer weniger vom einzelnen überschaubar) ist.

Zynisch wird man nur, wenn man idelle und unrealistische Erwartungen hat, die zwangsläufig enttäuscht werden.

Wenn der einzelne seine Rolle in der Gesellschaft verweigert, ist er natürlich nicht frei, sondern immer noch Opfer seiner zellulär-physischen und bisherigen psychischen und soziokulturellen Prägung. Das zeigen Robinsonaden. Die Rolle des Eremiten/Einzelgängers lenkt ihn natürlich auch.

Alles Liebe
gummibaum

 


« Letzte Änderung: Oktober 06, 2018, 21:26:21 von gummibaum »

cyparis

Re: Das alte Lied
« Antwort #4 am: Oktober 07, 2018, 14:10:58 »
Lieber Erich,

ich habe die anderen Kommentare noch nicht gelesen (wurde mir in Rotschrift empfohlen  :)),
aber "dös brauchts nöd", wie die Schwaben sagen.

Die Wenigen, gereifter und gescheiter -
sie sind die Ketzer, die man heiß verbrennt.


Ja, das ist ebenso richtig wie seltsam.
Mir will immer noch nicht in den Kopf, wie nicht nur Einzelne mißinterpretieren können, will heißen wie verbohrt sie sein wollen.
Das wabert in allen Kommentaren und das ist genau das Gegenteil zu Deinem "Wehret den Anfängen!".
(Läßt mir halt keine Ruhe).
Was wir hier im Klein-Klein haben, spielt sich auf anderen Bühnen weltweit im Groß-Groß ab -
Mahner werden wie üblich in die Wüste geschickt.
Auch Ihr in Österrech kommt ja nicht alle mit heiler Haut davon.


Trübseligen Gruß
von
Cypi


Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re: Das alte Lied
« Antwort #5 am: Oktober 07, 2018, 14:58:32 »
Hi Cypi!

Tja, das ist eben so, weil der Mensch nun mal so ist, wie er ist. Das "Fremde" ist der Feind, ist an allem schuld, was nicht funktioniert. Man sucht sich immer einen Sündenbock außerhalb der eigenen "kleinen Welt", der eigenen eng geschlossenen Gemeinschaft. Dieses Konkurrenzverhalten haben wir von unseren tierischen Vorfahren übernommen (Affenhorden führen um Dschungel regelrecht Krieg gegeneinander in Guerillataktik, Wolfsrudel verteidigen ihre Reviere gegen konkurrierende Meuten usw ..) und ziehen es sogar als hochgebildete " sog. Zivilisierte" weiter durch, unbewusst und instinktiv!

Hi Gum!

Genau. Mein Eremitendasein hat mich geprägt, ebenso wie die Demütigungen meiner Jugendzeit davor, die es erst bedingten. Mag sein, dies hat meine Weltsicht zusätzlich negativ beeinflusst. Wer zu oft enttäuscht wird, verliert das Vertrauen in die Menschen und in die Gesellschaften, die sie bilden, wo diese ein Opfer oft genug ignorieren oder sich den Umständen gegenüber als hilflos erweisen. Scheu zu werden wie ein wildes Tier erweist sich unter Umständen als die bessere Überlebensstrategie ...


LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Das alte Lied
« Antwort #6 am: Oktober 08, 2018, 14:52:19 »
Formvollendet greift das Gedicht die alte Vorstellung vom "Theatrum mundi" auf, die Gleichsetzung unseres Daseins mit einem bloßen Theaterspiel. Schon aus der Antike wird uns diese Sichtweise überliefert, z. B. in den Worten, die der römische Historiker Suetonius dem sterbenden Kaiser Augustus in den Mund legte: "Hat Euch dies Bühnenspiel gefallen? Dann spendet Beifall mir und dankbar gehen wir nach Hause wieder."

Dabei wurde dieser Vergleich des menschlichen Lebens mit einem Theaterstück durchaus mit unterschiedlichen Intentionen vorgenommen: Einerseits die gewissermaßen "stoische" Sichtweise, dass jeder Mensch nach bestem Wissen und Gewissen "seine" (ihm gemäße) Rolle zu spielen habe, was durchaus als konservativer oder gar reaktionärer Aufruf zum Erhalt der jeweils bestehenden Gesellschaftsordnung (miss)verstanden werden konnte, andererseits die Sichtweise, dass das Leben hienieden ziemlich sinnlos ist, woraus sich je nach Standpunkt wahlweise existentielle Verzweiflung, diesseitiger Hedonismus oder jenseitige Heilshoffnungen ableiten lassen.

All diesen Sichtweisen gemeinsam ist sicherlich die kritische, distanzierte Haltung zum irdischen Geschehen. Und diese kritische Distanz finden wir auch in eKys Zeilen. Aber was ist in diesem Gedicht die Conclusio?

In gewisser Weise wird es (ich denke ganz bewusst) etwas offen gehalten, denn "ich tanze nicht und packe meinen Ranzen und schleiche von der Bühne, leise, leise" kann durchaus gegensätzlich gedeutet werden: entweder als resignative Haltung im Angesicht der Begrenzheit des Lebens (der "Abgang von der Bühne" wurde schon in obigem Zitat des Kaiser Augustus mit dem Sterben gleichgesetzt!) oder aber (und diese Deutung gefällt mir sehr viel besser) als Zeichen des Wiederstands: Ich mache Euer Spiel nicht mit, sondern definiere meine eigenen Regeln und pfeife auf den Applaus des Publikums.

Letztlich ist gerade durch die Offenheit des Schlusses dieses Gedicht im besten Sinne zum Nachdenken anregend.

Sehr sehr gerne gelesen!!! :)


Nur ein paar Änderungsvorschläge, um das etwas pleonastische "heiß verbrennt" zu vermeiden:

"Die Wenigen, gereifter und gescheiter / - sie sind die Ketzer, die man heiß verbrennt."
=> z. B. zu:
"Die Wenigen, gereifter und gescheiter, / sind Ketzer, die man mitleidlos verbrennt." oder
"Die wenigen Gereiften und Gescheiten, / trifft Unheil, wenn das Ketzerfeuer brennt." oder
"Den wenigen Gereiften und Gescheiten, / hilft keiner, wenn der Scheiterhaufen brennt."

Erich Kykal

Re: Das alte Lied
« Antwort #7 am: Oktober 08, 2018, 22:57:39 »
Hi Sufnus!

Erst mal herzlichen Dank für diese unglaubliche Analyse auf dem Niveau einer Doktorarbeit!  :)

Auch ich folgte beim Schreiben der Conclusio dem von dir bevorzugten Gedanken. Es könnte aber auch ein Davonstehlen aus dem Leben selbst sein, das man als bedeutungslos und beliebig erkannt hat - ein Sterben ohne Begehrlichkeiten oder Sehnsucht nach Unsterblichkeit.

Das "heiß verbrennt" betrachte ich nicht als "doppelt gemoppelt", da die Temperatur einer Verbrennung ja durchaus große physikalische - oder wie hier psychologische - Unterschiede zeitigt. Hier wollte ich verdeutlichen, wie "heiß" der Hass und der Fanatismus "brennen", wenn man erst die Bücher verbrennt, danach die Autoren! Also ein Bezug nicht nur auf das tatsächliche Feuer selbst, sondern auch auf die - heiß - brennende Verachtung der Überzeugten oder Schergen eines Systems sowie deren emotionalisierte Mechanismen der Entmenschlichung für jene, die systemkritisch sind oder unerwünscht kritisieren oder den Verlauf solcher Systeme negativ zu extrapolieren wagen.

LG, eKy



« Letzte Änderung: Oktober 09, 2018, 14:11:21 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Das alte Lied
« Antwort #8 am: Oktober 09, 2018, 10:47:31 »
Hi eKy!
Freut mich sehr, dass auch Du der renitenten Conclusio zuneigst! Das Publikum kann uns mal! Man reiche den Schauspielern faule Eier und Tomaten!  >:D
Grüße!
S.

cyparis

Re: Das alte Lied
« Antwort #9 am: Oktober 13, 2018, 14:38:46 »




Genau. Mein Eremitendasein hat mich geprägt, ebenso wie die Demütigungen meiner Jugendzeit davor, die es erst bedingten. Mag sein, dies hat meine Weltsicht zusätzlich negativ beeinflusst. Wer zu oft enttäuscht wird, verliert das Vertrauen in die Menschen und in die Gesellschaften, die sie bilden, wo diese ein Opfer oft genug ignorieren oder sich den Umständen gegenüber als hilflos erweisen. Scheu zu werden wie ein wildes Tier erweist sich unter Umständen als die bessere Überlebensstrategie ...


LG, eKy

Ich kenne zumindest  e i n e n  Menschen, dem Du vorbehaltlos vertrauen kannst.
Und für noch ein paar würde ich die Hand ins Feuer legen.

Immer:
Cypi
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re: Das alte Lied
« Antwort #10 am: Oktober 13, 2018, 17:56:50 »
Liebe Cypi!

Deine aufrichtige Zugeneigtheit ehrt mich, und ich vertraue dir mehr als zuweilen mir selber.

Bedenke jedoch: Vertrauen basiert immer nur auf dem subjektiven Wissensgrad bezüglich der Person, der man es schenkt.

LG, eKy
« Letzte Änderung: M?RZ 31, 2022, 17:07:53 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re: Das alte Lied
« Antwort #11 am: Oktober 13, 2018, 18:05:28 »
Liebe Cypi!

Deine aufrichtige Zugeneigtheit ehrt mich, und ich vertraue dir mehr als zuweilen mir selber.

Bedenke jedoch: Vertrauen basiert immer nur auf den subjektiven Wissensgrad bezüglich der Person, der man es schenkt.

Eebent! :-*

LG, eKy
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Agneta

  • Gast
Re: Das alte Lied
« Antwort #12 am: Oktober 16, 2018, 10:14:37 »
ich schließe mich der umfassenden Analyse von Sufnus an und mag dieses Werk , lieber Erich, sehr. Auch ich lese, da es meinem Charakter am nächsten kommt, eher die provokantere Pointe heraus.
 Ich gehe mal noch weiter in die Tiefeund stricke diese These weiter
: Diese Bühne wäre das Leben als Theaterstück, kismetartig daran gebunden, wer es schreibt und  aufführt.Also als Individuum selbst machtlos und ohne die Perpsektive, etwas ändern zu können.
Ich denke jedoch, dass man durchaus gegen den großen Strom anschwimmen kann und sein Schicksal, sein Theaterstück, variieren kann. Zu klären bliebe dann noch, wer es grundsätzlich schreibt. Ein Gott? Eine unbekannte Allmacht, die Gesellschaft?
------------
Oder aber die Bühne als Bühne DER Puppen, die sich exaltieren müssen, die aber dadurch meist auch den Ton angeben und die Gesellschaft manipulieren in ihrem Sinne. Diese Bühne würde aber der Prot, den wir meinen, nicht besteigen. Also müsste er sie auch nicht verlassen.

Gerne drüber philosophiert. Macht Spaß!

LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Das alte Lied
« Antwort #13 am: Oktober 21, 2018, 10:38:12 »
Hi Agneta!

Du siehst es in der ersten Deutung richtig: Die Welt ist die Bühne, auf der die Menschheit ihr Stück gibt, bei dem die Schauspieler wechseln, aber die Rollen nie. Das bedeutet, die Geschichte wiederholt sich hoffnungslos immer wieder, aber nicht aus "Kismet", sondern aus der mangelnden Einsicht unfertiger Gehirne heraus, die zu wenig über ihren Tellerrand zu blicken vermögen, zu verstrickt sind in alltägliche Belange und Begierden. Das egomanische Denken weniger und das "kleine" Denken vieler ist es, woran letztlich eine friedliche Welt scheitern muss - immer und immer wieder!

LG, eKy

Es liegt an der atavistischen Gier, a l l e s haben und behalten zu wollen, bevor der nächste Räuber kommt.
« Letzte Änderung: Oktober 23, 2018, 14:10:44 von cyparis »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.