Autor Thema: Stumm  (Gelesen 2056 mal)

cyparis

Stumm
« am: August 07, 2018, 11:51:02 »


Stumm leidet sie. Ihr Angesicht:
fahlgrau.Verdorrte Erde
hofft, daß aus den Wolken bricht,
was ihr Gesundung werde.

Krank liegen Büsche wie Gebein;
der Himmel ist zu nah. Zu weiß.
Platanen häuten sich und fein
krüllt sich das Gras. Es ist so heiß.

Die Sonne ist, wie ewig, Feuerball;
sie kümmert weder Ziel noch Widerhall,
noch nie war Mitleid ihr zueigen.

Mag ich auch tränenvoll mich neigen
vor Feldern, die nach Wasser schrei'n:
Verbranntes Antlitz wird heut schweigen.
Und morgen voller Narben sein.
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Sufnus

Re: Stumm
« Antwort #1 am: August 07, 2018, 15:10:36 »
Sehr schöne und starke Bilder, interessante Form (beinahe ein Sonett) und das launehebende, mir ganz neue Wörtchen "krüllt": Bin begeistert!!! :)

... und kann das Klugdaherreden nicht lassen:

Einige Zeilen beginnen mit steigenden Spondeen (einen sauberen Spondeus = zwei betonte Silben hintereinander, gibt's im Deutschen eigentlich nicht, zumindest nicht ohne zwischengeschaltete Sprechpause, eine sog. Zäsur). Bei einem steigenden Spondeus ist die zweite Silbe stärker betont als die erste, aber es ist nicht so drastisch unterscheidbar wie bei einem Jambus.

Jambus: Gelassen steigt die Nacht ins Land =xXxXxXxX
Steigender Spondeus: Stumm leidet sie = (X)XxX
Im ersten Beispiel ist das "ge-" viel schwächer betont als das "-lass" usw. Im zweiten (Deinem) Beispiel ist der Unterschied zwischen "Stumm" und "leid-" nicht so gewaltig, man kann es fast zweifach betont lesen. Dadurch wirkt die Zeile besonders eindringlich. Ganz ähnlich in der nächsten Zeile das "fahlgrau", die Betonung liegt etwas stärker auf dem "-grau", aber das "fahl" hält zumindest etwas gegen. Sehr sehr schick! :)

Einzige Beklugfummelei (der Ausdruck kommt von eKy, oder? Hoffentlich gibt's da kein Copyright drauf!)

Die Sonne ist, wie ewig, Feuerball;
sie kümmert weder Ziel noch Widerhall,
noch nie war Mitleid ihr zueigen.

=>

Die Sonne, ewig, Feuerball,
kein Mitleid oder Widerhall,
kein Ziel ist ihr zu eigen.


Erich Kykal

Re: Stumm
« Antwort #2 am: August 07, 2018, 23:37:09 »
Hi Cypi!

Toll, dass du wieder etwas schreibst! Da will ich auch nicht groß Korinthen kacken (dass du dich nicht streng an Schemata hältst, ist lang bekannt) - die Zeilen sind ein Genuss!

Wie Suf schon schrieb, ist das Wörtchen "krüllt" ein besonderer Leckbissen, erinnert der Klang doch an "gekräuselten Tüll" - was wohl genauso beachsichtigt war. Man sieht die zerknitternden strohblassen Halme direkt vor sich ...

Inhaltlich führst du durch die verdorrte Natur dieser Sommertrockenheit, die lyrischen Bilder bei aller Deutlichkeit doch sprachlich wohlgesponnen. Gut vermittelst du den unsäglichen Durst allen Lebens, und das persönliche Mitleiden des LyrIch am Ende setzt einen würdigen Schlusspunkt.

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Letreo71

Re: Stumm
« Antwort #3 am: August 08, 2018, 20:44:50 »
Liebe Cyparis,

sehr mitfühlende Zeilen hast du da gezaubert, ich bin ganz stumm geworden. ;)

Lieben Gruß

Letreo

Agneta

  • Gast
Re: Stumm
« Antwort #4 am: August 12, 2018, 11:31:53 »
ui, liebe Cyparis, ein klasse Werk ist dir da gelungen, uch von Bild und Wortwahl her.  Respekt! Das Gebein (Anspielung auf den Tod)des Menschen und die leidende Natur im gemeinsamen Lebenskampf.
Wer es schafft, dem bleiben Narben.
Ein nachhaltiges Werk von Respekt vor dem Leben, das uns nicht das Leiden erspart. Das Häuten der Platanen geht unter die Haut so wie das gesamte Werk.
Schön, wieder etwas von dir zu lesen und dann so ein Superwerk.
LG von Agneta