Anders
Er wirkte anders heute. Sie hatten sich lange nicht gesehen, nur kurze Mails geschrieben wegen des Umzugsstresses von Anna.
Er war anders. Das wusste sie über ihren vertrauten Studienfreund schon seit vierzig Jahren. Sie war damals die einzige gewesen, der er es erzählt hatte. Damals, als sie beide noch jung waren.
Er brachte Brot und Salz zum Einzug mit, liebevoll dekoriert mit einer roten Schleife, so wie eine beste Freundin es tun würde. Seine Umarmung jedoch war fahrig, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woánders.
„Ich wollte ihn anrufen. Er ist gestern achzig geworden.“ Es brach aus ihm heraus, einfach so. Anna wusste sofort von wem die Rede war und schwieg. Er schaute auf die vertrocknenden Rosen, die ihr Mann ihr erst vor drei Tagen gekauft hatte. Dieses heiße Sommerwetter war nicht gut für Schnittblumen.
Nach zwanzig Jahren hatte Anna ihm damals schon empfohlen, dass sein Freund, seine große Liebe, seine Ehefrau einweihen sollte, sie gemeinsam einen Weg finden müssten. Nun streichelte sie seine Hand, wie man es bei einem Kind tut, das man trösten will. „Du hättest es vielleicht tun sollen. Wenigstens als Freund, als Kumpel, Zutritt zu seinem Leben zu bekommen, irgendwie. Sonst wirst du nicht einmal erfahren, wenn er einmal krank ist oder stirbt.“ Er nickte, unendlich traurig.
Nun schaute Anna auf die Rosen. Ließ ihm Zeit für eine Antwort.
„Ich wollte es,“ flüsterte er fast tonlos und ein erstes Rosenblatt fiel lautlos von dem Strauß herab auf die kalten Fliesen.