Autor Thema: Stadtrandperspektiven  (Gelesen 1278 mal)

Erich Kykal

Stadtrandperspektiven
« am: M?RZ 24, 2017, 19:09:47 »
Stadtrand: Die ungeschaffene Erde 

Wo Häuserfluchten an die Felder branden,
die Wege sich verlieren zwischen Bäumen,
und ohne Lampen, die ihr Schwinden säumen,
in Ackerfurchen kaum genutzt verlanden,

wo Fuchs und Hase ihren Frieden fanden
und keine Menschen mehr vom Tage träumen -
in diesen ungewissen, leeren Räumen
sind Spuren einer Schöpferkraft vorhanden,

die jenen, die im Dämmern sie betreten,
ein großes „Bald Vielleicht“ ins Fühlen tragen:
Als beugten selbst die Gräser, um zu beten,

im Winde sich, der ihre Halme spreitet,
für eine Nacht, die ihre tausend Fragen
dem Reich der Möglichkeiten unterbreitet.



Stadtrand: Die verlorene Natur

Wo Wälder zwischen Häuserkanten brechen,
zersplittern an der Gärten Zucht und Enge,
die Zaun an Zaun ein metrisches Gedränge
von klarer Ordnung bieten: tote Flächen,

wo selbst die Blumenbeete Hochdeutsch sprechen,
wenn sie die sittsam auferlegten Zwänge
als Heil beschreiben, das nach Wunder klänge,
verriete nicht ihr Dünkel das Verbrechen,

das sie erschuf: Dem großen Kreis entrissen,
der lebt und atmet unter Moos und Nadeln -
als ob ein Unverstand ermächtigt werde

zu tun, als wäre er Naturgewissen
der fremd Gewordenen, die alles tadeln,
was ungezähmt gedeiht auf dieser Erde.
« Letzte Änderung: M?RZ 26, 2017, 22:25:36 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Laie

  • Gast
Re: Stadtrandperspektiven
« Antwort #1 am: M?RZ 30, 2017, 10:37:54 »
Hi eKy,

ich bin kein großer Fan von Sonetten. Aber diese beiden gefallen mir :)

Das erste Gedicht beschreibt die Natur beinahe als Tempel, als einen Ort zur Andacht, abseits des Stadtgewühles. Toll!

Das zweite Sonett verstehe ich fast als scharfe Kritik an den Stadtbewohner, der sich in seinem Schrebergärtchen ein Stückchen Natur in seiner Nähe halten will, dieses aber vom Natursein abhält und es trimmt, rupft und begrenzt. Ich als ein Mensch, der in einer sehr, sehr kleinen Stadt eher ländlicher aufgewachsen ist, kann schon irgendwie nachvollziehen, dass sich manche einfach einen Garten wünschen. Meine Eltern haben auch einen Garten hinterm Haus, obwohl es schöne weite Wiesen in nicht allzu großer Entfernung gibt :) Ich hätte den Garten in meiner Kindheit nicht missen wollen :)


Sehr gern gelesen!


Gruß,
Laie

Erich Kykal

Re: Stadtrandperspektiven
« Antwort #2 am: M?RZ 30, 2017, 16:52:13 »
Hi Laie!

Mir standen weniger die Schrebergärtchen vor Augen, als die getrimmten Golfrasen und kupierten Zierbäumchen, die mit Winkelmaß geschnittenen Hecken der Vorortsiedlungen, die Gärten "rund ums Haus", gebändigte, ja kastrierte Natur, brav "bewältigt" von Menschengeist und Ordnungssinn - wohl eher "über"wältigt, möchte man sagen!  :o ::)

Vielen Dank für dein Lob - leider wirst du bei mir sehr viele Sonette lesen - es ist meine Lieblingsform! Allerdings experimentiere ich gern damit, weil mir manche der Regeln als lyrisch und sprachtechnisch zu beengend erscheinen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Stadtrandperspektiven
« Antwort #3 am: M?RZ 30, 2017, 22:11:46 »
Hallo Erich,

sehr schöne Beschreibung des Faktischen und Möglichen im Grenzgebiet. Es ließe sich auf andere Zonen übertragen, in die benachbarte, konträre Lebensweisen einsickern oder die deren Einsickern abwehren. Die Gedichte nähern sich der Grenze jeweils aus dem Zivisations - und Naturraum, das war wohl eine Herausforderung, die das Thema mit sich brachte. Eine Parteilichkeit für die Natur ist unüberseh/lesbar. Stilistisch setzt die harte Interpunktion im zweiten Gedicht die abgezirkelten Räume ins Bild und macht sie im Lesefluss/stau fühlbar.

Tolle Bilder, ausdrucksstarke Verben. Absoluter Lesegenuss!

LG gummibaum

 




Erich Kykal

Re: Stadtrandperspektiven
« Antwort #4 am: M?RZ 30, 2017, 23:33:30 »
Hi Gum!

Vielen Dank für das begeisterte Lob!  :)

LG, eKy
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Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Curd Belesos

Re: Stadtrandperspektiven
« Antwort #5 am: Juni 28, 2017, 23:41:49 »
die getrimmten Golfrasen und kupierten Zierbäumchen, die mit Winkelmaß geschnittenen Hecken der Vorortsiedlungen, die Gärten "rund ums Haus", gebändigte, ja kastrierte Natur, brav "bewältigt" von Menschengeist und Ordnungssinn - wohl eher "über"wältigt,

moin moin Erich,

wenn man das Gedicht laut mit Pathos und erhobener Faust liest, ist es eine flammende Rede, kunstvoll als Sonett geschrieben. Das gefällt mir sehr gut  ;)

LG
CB
Nur wenn du frei bist " IF " ....dann bist du ein Mensch

Erich Kykal

Re: Stadtrandperspektiven
« Antwort #6 am: Juni 29, 2017, 18:20:38 »
Hi Curd!

Mit Pathos habe ich so meine Probleme, da wird man leicht schmalzig, wenn's zuviel wird! Ich würde es eher als "aufrichtigen Furor" bezeichnen.  ;) :)

Ich versuchte aber  - obwohl ich immer auf Seiten der Natur stehe - hier bewusst ambivalent zu bleiben, zumindest im ersten Sonett. Wenn du den Text betont ruhig und ausgeglichen, ja liebevoll liest, wirst du vielleicht bemerken, dass ein anderes, wertneutraleres Bild entstehen mag ...

Vielen Dank für deine Gedanken!  :)

LG, eKy
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Phoenix-GEZ-frei

Re: Stadtrandperspektiven
« Antwort #7 am: Juni 30, 2017, 18:09:47 »
Hi Erich,

zwei Klanggedichte zwei Titel, die du vermutlich nicht ohne Grund unterstrichen hast.
Das durchgängige unterstreichen schafft eine Ebene, sozusagen ein Beziehungsgeflecht.
(Zivilisation) – Natur

Sonett eins: unbetonter Auftakt abba 2Sa4V/2Sa3V cdc efe ? Stadtrand: Die ungeschaffene Erde
Sonett zwei: unbetonter Auftakt abba 2Sa4V/2Sa3V cde cde ? Stadtrand: Die verlorene Natur

Beide Sonette haben folgende Eindrücke bei mir hinterlassen:

Der (unfertige Mensch) Die tiefgründige Natur. Die Entfremdung des (Menschen) zur Mutter
Natur. Der (Mensch) mit all seinen negativen/destruktiven Anteilen sägt den Ast ab, auf dem
er sitzt. Als wollten sie, mit ihrer Hybris die Welt wie einen Bonsai stutzen. ;)

Des weiteren dachte ich an H. Hesse „ Unterm Rad“ und Gusto Gräser

Sehr gerne gelesen und damit beschäftigt.

Ein schönes Wochenende verbunden mit einem LG
Phönix




Erich Kykal

Re: Stadtrandperspektiven
« Antwort #8 am: Juni 30, 2017, 19:04:53 »
Hi Phönix!

Nah dran. Beide Sonette beschreiben den Grenzbereich zwischen bebautem und unbebautem Land. Dort wo die Strassen und die Laternen enden, der Asphalt zu Schotterwegen oder Erde wird, wo Felder den Raum zwischen Mauern und Wald definieren. Bauland, Brachland, verwilderte Wiesen, wucherndes Gestrüpp - noch unbestimmte Erde, die alles werden kann: Wald oder Wohnungen. Das erste Sonett beschreibt diesen Bereich, nähert sich dieser Grenze vom Wald her, beschreibt es als ein bereits beeinflusstes, aber noch quasi unschuldiges Land, das darauf wartet, mehr zu werden, oder zumindest anders. Es mag Pläne geben - aber noch ist alles unbestimmt, in der Schwebe zwischen Nutzung und Natur.
Das zweite Sonett beschreibt die Szenerie von der Stadtseite her: Die letzten Gärten, gefüllt mit zwangsgeordneter Natur, aufgezwungene Ordnung, aber eben Nutzung durch den Menschen, wie immer man dazu stehen will. Wie ich dazu stehe, merkt man dem Text leider etwas deutlicher an als geplant ...

Vielen Dank für deine eingehende Beschäftigung mit diesen Werken!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: September 11, 2021, 14:24:52 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.