Autor Thema: Tages Erwachen  (Gelesen 1321 mal)

Aspasia

  • Gast
Tages Erwachen
« am: September 08, 2016, 20:13:37 »
Glühender Lichtschein durchstößt den Himmel,
flüchtiger Glanz trifft auf Morgenstunde -
Wolken verschließen hastig die Wunde,
grau und getrieben wie fliehende Schimmel.

Häuser verharren in tristen Reihen,
trostlos geduckt in der herben Kühle,
Windsäuseln klingt wie das Prophezeien
großer Entwürfe aus göttlicher Mühle.

Duldsam empfängt jedes Dach den Regen,
billigen Gärten den sanften Schauer,
strecken sich Blüten dem Quell entgegen,
wissend: Die Schwermut ist niemals von Dauer.

08.09.2016

Erich Kykal

Re: Tages Erwachen
« Antwort #1 am: September 08, 2016, 20:53:35 »
Hi Aspasia!

Eine gewisse Spannung in deinen Zeilen, ein nicht aufgelöster Akkord der Sprache ließ mich die Silben zählen. In jeder Strophe lautet das Schema: 10-10-10-11

Dabei wollen alle Zeilen diese 11 Silben haben, deren letzte du ihnen verweigerst - erst in der jeweils letzten Zeile darf sie wie eine Erlösung sein.

Daraus ergibt sich ein klangliches Ungleichgewicht, eine flirrende Energie, die sich erst in der letzten Quartettzeile löst - aber auch ein unmelodisches Ungleichgewicht in jeder nur 10-silbigen Zeile. Einerseits bewundere ich den Grad von Sprachdurchdringung, der dich solch ein Mittel erkennen und bewusst wählen lässt - andererseits bürsten mich alle 10-silbigen Zeilen beim Lesen irgendwie gegen den Strich. Es ist wie ein Jucken im Sprachzentrum, das ich nicht kratzen kann, es sei denn, mit jener fehlenden Silbe!

Was soll diese Form bewirken? Zum Inhalt scheint ihre Wirkung nicht zu passen, ausgenommen die 2. Str.. Man fühlt sich unbewusst unwohl, irritiert beim Lesen - soll das bewusst auf den Leser wirken, oder bin ich da übersenibel?

Die Sprache ist formvollendet, ausgesprochen lyrisch, die Bilder potent, plastisch und voller Tiefe - alles perfekt, bis auf diese kleine, aber wesentliche Unperfektion im Silbenschema, die alles in Frage zu stellen scheint, beunruhigt, verunsichert.

Wenn gewollt, genial - aber mit welchem Motiv? Beschrieben wird ein Morgen in einer Vorstadtretortensiedlung, so zumindest meine Vorstellung: Die billigen Gärten, die Häuserklone - armselige Zerrbilder menschlichen Bemühens um überlegene Ordnung und Sicherheit. Nur die wenige Natur ist rein ... und hofft auf buntere Tage.

Sehr gern gelesen! :) - Und wie ich hoffe richtig gedeutet. Ich weiß nicht, ob mir der Silbeneffekt letztlich gefällt. Der Kniff ist genial, zweifelsohne - aber insgesamt leiden Sprachharmonie und lyrische Anmut doch erheblich darunter. Ist der Effekt diesen Preis wert?


LG, eKy

Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Tages Erwachen
« Antwort #2 am: September 08, 2016, 21:06:14 »
Hallo Aspasia,

auf mich wirkt es, als ob ein Reiter den Zügel im Anritt auf ein Hinderniss sehr kurz hält und ihn unmittelbar davor zum Sprung frei gibt.

Sehr gern gelesen.

LG gummibaum

Aspasia

  • Gast
Re: Tages Erwachen
« Antwort #3 am: September 08, 2016, 21:31:58 »
auf mich wirkt es, als ob ein Reiter den Zügel im Anritt auf ein Hinderniss sehr kurz hält und ihn unmittelbar davor zum Sprung frei gibt.

Das trifft es gut, gummibaum, und genau das ist es, was Erich verstört.

Danke.

Aspasia

Aspasia

  • Gast
Re: Tages Erwachen
« Antwort #4 am: September 08, 2016, 21:35:08 »

Sehr gern gelesen! :) - Und wie ich hoffe richtig gedeutet. Ich weiß nicht, ob mir der Silbeneffekt letztlich gefällt. Der Kniff ist genial, zweifelsohne - aber insgesamt leiden Sprachharmonie und lyrische Anmut doch erheblich darunter. Ist der Effekt diesen Preis wert?


Ja, ist er. Siehe deinen Kommenar!  ;)

Danke für die ausführliche Beschäftigung. Dein Kommentar hat mir gut gefallen.

Liebe Grüße
Aspasia