Autor Thema: Vergangenheit  (Gelesen 1250 mal)

gummibaum

Vergangenheit
« am: April 30, 2016, 15:13:41 »
Was lange schlief, entpuppte sich,
rief mich zurück, berührte mich
und blieb zugleich im Zeitgewand
noch immer ein entrücktes Land.

Dann war es mir, als wär ich jetzt
vom Traum ins Wirkliche versetzt.
Ich sah mich an der Nähe wund
und flog zu dir, an deinen Mund.

Und als ich deinen Kuss genoss,
schwand meine Kraft, das Bild zerfloss,
und über meiner Seligkeit
lag schwerer die Vergangenheit…
« Letzte Änderung: April 01, 2018, 19:27:32 von gummibaum »

Sufnus

Re: Vergangenheit
« Antwort #1 am: Juni 25, 2021, 15:01:22 »
Hi gum! :)

Ein weiterer (sehr sehr lohnenswerter) Besuch meinerseits in den Keller-Archiven der Wiese. :) Warum dieses wunderbare Gedicht wohl unkommentiert blieb? Stand hier nur der launische Zufall einem Echo entgegen?

Die höchst ansprechend geformten Zeilen legen dem Lesefluss doch wahrlich keine formalen Hindernisse in den Weg: Volkstümlicher Paarreim, ein - jedem Gedichteleser altvertrauter - vierhebiger Jambus und durchgängig männliche Kadenzen. Auch die Länge des Gedichts ist für heutige Lesebefindlichkeiten passgenau in der Wohlfühlzone gestaltet - nicht zu lang und nicht zu kurz. :)

Hier finden wir also eine Volksliedhaftigkeit im besten Sinne und - speaking of Sinn: Auch dieser ist durchsichtig gestaltet und bereitet keine raunig-verschlüsselten Probleme. Bereits der Titel gibt den Zeitpfeil und die Leserichtung vor: Eine Reise in die Vergangenheit, offensichtlich im Kopf des Lyrischen Ichs, da Zeitmaschinen zur Realisierung physischer Rückwärtsgewandtheit bis dato nicht manifest wurden (und das bisherige Ausbleiben greifbarer Besucher aus der Zukunft ist zumindest ein Indiz, das hier das letzte Wort gesprochen ist).

Was es nun genau mit dieser psychischen (oder sagen wir mal lieber: seelischen) Zeitreise besteht, was also das Reiseziel ist, davon spricht die letzte Strophe: Es ist die Erinnerung an einen fernen Kuss, an eine Jugendliebe höchstwahrscheinlich. Und diese Erinnerung überschattet die Gegenwart und bringt dem Lyrischen Ich nicht etwa Freude oder Trost, sondern ist eher von Trauer und Wehmut bestimmt - das deutet die zweite Strophe im Vorgriff bereits an ("ich sah mich an der Nähe wund") und die Conclusio besiegelt es ("... über meiner Seligkeit / lag schwerer die Vergangenheit... ").

Kein Happy End.

Ist das der Grund für das (betroffene) Schweigen der Leserschaft?

LG!

S.


Erich Kykal

Re: Vergangenheit
« Antwort #2 am: Juni 25, 2021, 15:38:12 »
Hi Gum!

Ein launischer Zufall, dass ich dies nie kommentierte, und der Umstand, dass ich damals noch mehrheitlich anderswo aktiv war. Dank gebührt - neben dem Autor natürlich, der solche Perlen der Dichtkunst erschafft - jedenfalls dem Ergraber dieser alten Kostbarkeit!  :)

Ich deute den Text so, dass das LyrIch ein Traumbild von einer begehrten Person hatte, das er jahrelang pflegte, scheinbar ohne Hoffnung auf ein reales Näherkommen, und das in ihm wuchs zu einem Altarbild, dem er alles opferte, wenn er daran betete.
Nun ergab sich offensichtlich doch das tatsächliche Beiwohnen mit der Angebeteten, und bei aller Verzückung scheint diese Wirklichkeit sich doch irgendwie nicht mit dem in all der Zeit überlebensgroß gewordenen Traumbild von dieser Person messen zu können! - Welch ironische Tragik!

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Vergangenheit
« Antwort #3 am: Juni 29, 2021, 00:03:31 »
Lieber Sufnus,

vielen Dank für das Lob. Ich konnte mich erst nicht mehr erinnern, das Gedicht geschrieben zu haben, fand dann aber sogar noch eine Erklärung dazu.
   

Lieber Erich,

hab besten Dank. Eine schöne Deutung.


Es handelt sich eigentlich um einen Traum, der etwas vergangenes Schönes zurückholt, offenbar weil der Träumer es gern weiterleben würde. Doch die Intensität der geweckten Gefühle lässt ihn erwachen und alles als Traum erkennen.


Beste Grüße von gummibaum

Erich Kykal

Re: Vergangenheit
« Antwort #4 am: Juni 29, 2021, 14:55:08 »
Hi Gum!

Da wär ich nie drauf gekommen! Ob da der gewählte Titel so passend ist? Bei "Vergangenheit" denkt man an weit längere Zeitspannen als an die Rückbesinnung auf einen eben gehabten Traum.

Ein Titel mit Anspielung auf Träume, den Schlaf oder so wäre da wohl hilfreicher für die korrekte Deutung durch den Leser.  :-\

LG, eKy
« Letzte Änderung: Juni 29, 2021, 17:43:36 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Vergangenheit
« Antwort #5 am: Juni 29, 2021, 17:13:27 »
Verstehe, lieber Erich.

Ich bin bei der Wahl der Titel oft unsicher, wähle sie intuitiv nach Fertigstellung des Textes. Und der Titel „Vergangenheit“ wird wohl dem Nachhallen des letzten Textwortes in meinem Kopf entsprungen sein.

Dennoch sehe ich im Moment die „Vergangenheit“ als gar nicht so schlechten Titel.
 
Träume halten wir für irreal, aber sie zeigen, was im Unbewussten los ist. Und da gibt es viel Vergangenheit. Durch Träume verstehen wir deren gespeicherte  Gegenwart, Kraft und Dynamik und warum wir plötzlich ohne ersichtlichen Anlass glücklich oder traurig, aktiv oder passiv werden. Vergangenheit -so auch das Unglück in der Liebe und der Wunsch, sie ginge weiter- hat lange Schatten.
 
Dank und Gruß von gummibaum
« Letzte Änderung: Juni 29, 2021, 17:17:18 von gummibaum »