Autor Thema: Zeitnomaden  (Gelesen 1893 mal)

Erich Kykal

Zeitnomaden
« am: November 13, 2015, 18:03:40 »
Müd belächeln wir, was uns vor Zeiten
ach so wesentlich und groß erschien:
All die Steckenpferde, die wir reiten,
sie erscheinen augenblicklich wichtig,
doch mit Jahren, die vorüberziehn,
wird selbst Unabänderliches nichtig.

Seltsam, dass wir unverbrüchlich glauben,
was wir grade dächten, machte Sinn!
All die Träume, die in uns verstauben,
sind zuletzt vergebliche Lektionen:
Subjektiv erfahren wir Gewinn
in den Köpfen, die wir vag bewohnen.

Und egal, wonach wir morgen jagen,
weil das Heutige uns nicht mehr trägt -
wir begreifen nie das eigene Versagen
im Zusammenhang des großen Ganzen:
Nach den Takten, die sich jeder schlägt,
müssen wir die eignen Lieder tanzen!
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

a.c.larin

Re: Zeitnomaden
« Antwort #1 am: November 13, 2015, 18:31:18 »
hallo erich,
da sprichst du ein paar wahre wörter ganz gelassen aus!
ich kann sie nur abnicken.

packt dich jezt auch schon die altersweisheit?

mir kommt dabei aber ein verdacht (wenn ich mir so selber zuschau):
vielleicht ist die sogenannte " weisheit des alters" nichts anderes als erschöpfung, weil man einfach nicht mehr die kraft hat, sich an gewissen dingen zu reiben oder sich über sie zu ereifern?
und dann nimmt mans halt hin, wies grad so ist.
und aus dem tanzen wird nach und nach ein schlurfen.

die zeile hats mir besonders angetan:

wir begreifen nie das eigenen Versagen
imZusammenhang des großen Ganzen

ja, das gucken übern tellerrand (oder übern grenzzaun, wie mans nimmt), das ist eine kunst , die wir noch erlernen müssen!

lg, larin


Erich Kykal

Re: Zeitnomaden
« Antwort #2 am: November 13, 2015, 18:46:53 »
Hi, larin!

Danke für's Beipflichten! Wenn ich sehe, mit welcher Begeisterung sich politische oder religiöse Eiferer im Namen ihrer fiktiven Lebensbewältigungskonstrukte und -konzepte  gegenseitig die Köpfe ein- oder gleich abschlagen, wird mir angst und bange!
DAS ginge ja noch - Wahnsinnige unter sich! Aber neuerdings wird bevorzugt das unschuldige Opfer sogar gesucht, um mehr Entsetzen und Angst zu schüren! Abgrundtief verwerflich!

Eigentlich dachte ich bei meinen Zeilen ja eher an die kleinen Dinge im eigenen Kopf: Angesichts dessen, dass wir das, was uns gestern bedeutsam schien, heute belächeln, gelangen leider die wenigsten zu der Erkenntnis, das jenes, das wir heute so wichtig nehmen, sehr wahrscheinlich das Belächelte von morgen sein wird! ::)

Jeder lächelt wissend, wenn ein Schamane singend ums Feuer tanzt und "Geister" beschwört: DAS haben wir hinter uns gelassen - zuviel haben wir über die Welt gelernt, um derlei noch zu glauben! Dass der Glaube an den EINEN Übervater, den großen Gott aus Talmud, Bibel und Koran, vielleicht morgen schon milde belächelt wird, weil wir (irgendwann) endlich aus dieser Bedürftigkeit herausgewachsen sind - daran denkt beim Anblick des tanzenden Schamanen aber kaum einer! Dabei ist es nur der nächste logische Schritt!

Also leiden und sterben wir weiterhin im Namen der Dinge, die eben gerade SOOOO wichtig sind! Und natürlich "ewig" und "größer als wir" und derlei pathetischen Schwachsinn mehr! ::)

Nein, wir bleiben "Nomaden der Zeit" in unseren eigenen Köpfen und folgen stets den gerade relevanten Umständen, die wir uns zu "Realität" erklären. Arme Wirklichkeit! :(

LG, eKy
« Letzte Änderung: November 13, 2015, 18:48:45 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Curd Belesos

Re: Zeitnomaden
« Antwort #3 am: November 13, 2015, 21:48:06 »
moin moin Erich,

Zitat
gelangen leider die wenigsten zu der Erkenntnis, das jenes, das wir heute so wichtig nehmen, sehr wahrscheinlich das Belächelte von morgen sein wird
[/color]

.......als ich es merkte und kund tat, stand ich plötzlich als einsamer Rufer in der Wüste da.

Emotionen, egal wo, ob bei religiösen, oder zwischenmenschlichen Beziehungen sind stärker als rationales Gedankengut.

Die Erde ist eine Scheibe und Gott wohnt hinter dem Mond ist leichter zu vermitteln, als dass wir durch Evolution zur Zeit an der Spitze stehen, doch für wie lange  ??? >:D

Deine geformten Gedanken habe ich gerne gelesen, denn auch ich tanze nach meinem eigenen Takt, und singe meine eigenen Lieder.

Doch manchmal möchte ich wissen ob mein Denken wirklich über das Glauben hinausgeht.

LG
CB
Nur wenn du frei bist " IF " ....dann bist du ein Mensch

Erich Kykal

Re: Zeitnomaden
« Antwort #4 am: November 13, 2015, 21:52:35 »
Hi, Curd!

Ich verstehe, was du meinst!

Wir glauben zu wissen - aber ist unser Wissen objektiv und real - oder nur weiteres "Geglaubtes"?

Der Weg bis zur völligen Durchdringung der tatsächlichen Realität ist noch weit - aber wir sind zumindest auf dem Weg, wenn wir nicht mehr in jedem Stein oder Strauch einen eigenen "Geist" vermuten, der uns verflucht, wenn wir nicht die überlieferten Riten beim Vorbeigehen runterleiern! ::) ;D

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

a.c.larin

Re: Zeitnomaden
« Antwort #5 am: November 14, 2015, 11:28:25 »
also ich hatte unlängst ein höchst aufschlussreiches seminar bei einem anerkannten neurowissenschaftler, und der erklärte folgendes:

unser gesamtes denken ist eigentlich nur ein GLAUBEN,
denn:

unser gehirn kann die welt nicht so wahrnehmen wie sie ist -
zum einen, weil wir ja immer nur einen sehr begrenzen ausschnitt wahrnehmen , also schon mal rein mechanisch,
zum anderen, weil ein teil unseres gehirnes ( mit sitz im limbischen system) aus den eingegangenen reizen heftig ausfiltert, was für uns rein individuell bedeutsam erscheint/in der jeweiligen situation sinn macht.

o-ton des neurowisseschafters: eigentlich kann man einem gehirn nix beibringen, es wählt von anfang an selber aus, was es aus der fülle der möglichkeiten herausholt. es zimmert sich also sowieso jedes gehirn seine eigene welt zusammen, mit oder ohne gott - und für beides gibt es keinen beweis.
denn: auch was wir wissenschaftlich zu wissen glauben, kann sich in hundert jahren als überholt darstellen.
wir glauben halt, zu wissen, das ist alles.

somit steht auch fest: chancengleichheit = null.
wir sind von anfang an individuell mit höchst individuellen wahrnehmungsmustern und metaprogrammen - und werden es mit den jahren immer mehr. vor dem hintergrund, meint er, sollte man ehescheidungen eigentlich anders verstehen lernen. gehirne haben sich anders entwickelt. und da die leben heute länger dauern, demzufolge auch die ehen, wäre das eigentlich kein wunder.

so betrachtet ist es aber doch ein wunder, dass wir - trotz aller unterschiede- doch irgendwie miteinander funktionieren können.
aber das liegt dann vielleicht wiederum daran, dass manche hirnstrukturen einander ähnlicher sind als andere, dass manche halt ähnlicher zusammen ticken als andere.

im grunde aber sind wir allein in unserer birne - und das müssen wir erst mal akzeptieren lernen.

lg, larin

Erich Kykal

Re: Zeitnomaden
« Antwort #6 am: November 14, 2015, 14:23:40 »
Hi, larin!

Basisphilosophisch gebe ich dir recht, auch bei unserem mangelhaften Sensorium und den selektiven Auswertungskapazitäten - aber Naturwissenschaft ist doch was anderes als Religion. Naturwissenschaftliche Erkenntnis kann ich jederzeit nachprüfen, die Beweise sind immer um uns, so wir sie erkennen - und so ein Beweis funktioniert immer (siehe Newtons fallender Apfel).
Versuch DAS mal bei Religionen! ;) ;D ::)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Aspasia

  • Gast
Re: Zeitnomaden
« Antwort #7 am: November 15, 2015, 09:17:35 »
Guten Morgen, Erich,

ein schönes, tiefsinniges Gedicht. Ebenso lesenswert sind die Kommentare dazu. Da kann man über dei eine oder andere Aussage streiten, auch über die Theorien des Neurowissenschaftlers. Eine allzu große Erkenntnis dürfte es auch ohne die Wissenschaft nicht sein, dass jeder Mensch ein Unikat ist und individuell tickt. Ich finde auch nicht, dass das Gehirn uns nach seinem Willen manipuliert oder das Gehirn durch uns konditioniert wird. Es ist wohl eher ein Wechselspiel.

Richtig ist sicherlich, dass wir in fortgeschrittenem Alter in mancherlei Hinsicht gelassener werden. Das muss aber nicht zu einem Verfallen in den Stoizismus führen. Wir knipsen nicht einfach Dinge aus, weil sie uns nicht mehr wichtig sind, sondern wir legen den Schalter um: Sex ist nicht mehr wichtig, aber die Liebe bleibt; Besitztümer stehen nicht mehr im Vordergrund, aber eine gewisse Sicherheit will sich jeder bewahren; Putzen muss nicht mehr so regelmäßig sein wie früher, aber im Schmutz will man dennoch nicht sitzen; die neueste Mode muss man nicht mitmachen, aber die Jeans sollte sauber sein und passen. Dies nur als Beispiele.

Ich will aber noch einen anderen Aspekt anführen: Sind die Kinder aus dem Haus und hat man gar das Rentenalter erreicht, können gerade diejenigen Dinge, die einem früher wichtig waren, die man aber der Pflichten wegen zurückstellen musste, wieder hervorkramen. Dann ist ist Zeit gekommen, das endlich tun zu dürfen, was man schon immer tun wollte.

Dir und allen Wiesenbewohnern einen schönen Sonntag,
Aspasia

Curd Belesos

Re: Zeitnomaden
« Antwort #8 am: November 15, 2015, 16:28:12 »
Ich will aber noch einen anderen Aspekt anführen: Sind die Kinder aus dem Haus und hat man gar das Rentenalter erreicht, können gerade diejenigen Dinge, die einem früher wichtig waren, die man aber der Pflichten wegen zurückstellen musste, wieder hervorkramen. Dann ist ist Zeit gekommen, das endlich tun zu dürfen, was man schon immer tun wollte.

Liebe Aspasia,

dieser  Gedanke wird viele Rentner und Pensionäre freuen  ;)

Meine Kurz Vita in einem anderen Forum lautet nämlich:

Über mich:
Nach meiner Jugend wurde die Liebe zur Romantik vom grauen Alltagsgeschehen in Beruf und Ehe verschüttet.
 
Jetzt in der Muße des Alters, kehren die verlorenen Freuden Stück für Stück zurück.
 
Ich schreibe wieder Verse und male dazu Hintergrundbilder.

Einen regentriefenden Gruß vom Ostsee Strand

Curd
Nur wenn du frei bist " IF " ....dann bist du ein Mensch

Erich Kykal

Re: Zeitnomaden
« Antwort #9 am: November 15, 2015, 17:16:46 »
Hi, Aspasia und Curd!

Vielen Dank für die wertvollen Gedanken dazu! :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Copper

Re: Zeitnomaden
« Antwort #10 am: November 18, 2015, 17:33:21 »
Hallo Erich,

nichts ist kostbarer als der Augenblick. Der Schleier der Zeit legt sich auf alles und somit scheint uns einiges von früher nicht mehr so wichtig. Trotzdem werden wir geprägt von unseren Erfahrungen, sowie auch von unserer Vorstellung was da noch kommen wird. Aus Beidem ergibt sich jeweils die individuelle Wahrheit, oder auch, wie wir die Gegenwart erleben. Mit welchen Gefühlen, Ängsten und Hoffnungen usw.

Wir sind das Endprodukt von dem was hinter uns liegt und jede neue Erfahrung, jedes neue Erleben summiert sich dazu und beeinflusst auch unser Vorausdenken.

Zu Deinem Gedicht kann ich nur sagen: Es war wieder ein Genuss.

Viele Grüße nach Österreich, Copper.







Erich Kykal

Re: Zeitnomaden
« Antwort #11 am: November 18, 2015, 20:11:56 »
Hi, Copper!

Rein technisch kann man ja nicht im Augenblick leben, da er ja sofort vom nächsten abgelöst wird und somit vorbei ist. ;) Man könnte es eher ein "Leben im Momentanen" nennen.
Sehr erstrebenswert scheint das aber nicht zu sein - frag mal Alzheimerpatienten! Wir definieren unser Selbst eben durch die Erinnerungen und Erfahrungen, die wir mit uns tragen. Wir leben also quasi genauso im Vergangenen wie im Gegenwärtigen, ob wir wollen oder nicht - und das ist gut so.
Man kann und soll auch bis zu einem gewissen Grad in der Zukunft leben - in den Träumen und Vorstellungen, die wir zu verwirklichen gedenken. Aber wie mein Gedicht aussagt: Träume und Ziele ändern sich mit uns, oft genug, bevor wir das Angestrebte erreicht haben - es ist einfach nicht mehr wichtig.

Vielen Dank für deine Gedanken! :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.