Autor Thema: Der Wanderer der Zeit  (Gelesen 1837 mal)

ANOUK

Der Wanderer der Zeit
« am: August 21, 2015, 11:39:01 »
Sacht rührt mich die Vergänglichkeit,
wohl sanfter noch als du.
Es naht so still mit leichtem Schuh
der Wanderer der Zeit,
setzt sich zu uns dazu.

Er zwingt die Kerze in die Knie
und zaubert dunkle Schatten,
das Abendrot entflieht den Matten
dichter Wolken, die er spie.
Der Nacht enthuschen Ratten.

Und unser Zeitglas, das einst voll
- wie rasch geht es zur Neige!
Und der frohen Grille Geige
spielt ihre Weise nun in Moll.
Ein Wort erstirbt: ich schweige.

Der Wanderer erhebt die Hand:
ein stummer Gruß, in seinen Taschen
fressen Löcher gierig Maschen.
Zeit rieselt leis, wie feiner Sand,
über Hose und Gamaschen.

Es nagt an mir die Rattenbrut,
zu Staub zerfall‘n die Stunden,
der Mond zieht seine Runden,
abgelöscht des Feuers Glut
und unsre Zeit – entschwunden!

A.F. 6-2015
Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen, aber selten etwas Besseres. (Lessing; aus: Nathan der Weise]

cyparis

Re: Der Wanderer der Zeit
« Antwort #1 am: August 30, 2015, 18:25:43 »
Liebe ANOUK -

ich mach es kurz und knapp wie immer:
Dolles Gedicht!
Ich sah ihn auch, den Wanderer in seinem zerschlissenen Gewand, Ahasvergleich ist er immer mein Begleiter gewesen.
Aber so schön wie Du konnte ich ihn nicht bedichten.
Er, der Namenlose mit den tausend Namen bleibt uns nah.

Bewundernd:
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

ANOUK

Re: Der Wanderer der Zeit
« Antwort #2 am: August 31, 2015, 14:31:07 »
Liebe Cyparis, danke für dein Lob und Dein Verständnis für meine Zeilen. Dieses Jahr ist so viel geschehen, dass das Thema für mich eine ungeheure Dringlichkeit für mich bekam .. und wenn ich mit Dinge von der Seele schreibe, ist mir hinterher so viel leichter ums Herz.
Liebe Grüße und hab Dank
Anouk
Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen, aber selten etwas Besseres. (Lessing; aus: Nathan der Weise]

Erich Kykal

Re: Der Wanderer der Zeit
« Antwort #3 am: August 31, 2015, 15:55:45 »
Sacht rührt mich die Vergänglichkeit,
wohl sanfter noch als du.
Es naht so still mit leichtem Schuh
der Wanderer der Zeit,
setzt sich zu uns dazu.

Er zwingt die Kerze in die Knie
und zaubert dunkle Schatten,
das Abendrot entflieht den Matten
dichter Wolken, die er spie.
Der Nacht enthuschen Ratten.

Und unser Zeitglas, das einst voll
- wie rasch geht es zur Neige!
Und der frohen Grille Geige
spielt ihre Weise nun in Moll.
Ein Wort erstirbt: ich schweige.

Der Wanderer erhebt die Hand:
ein stummer Gruß, in seinen Taschen
fressen Löcher gierig Maschen.
Zeit rieselt leis, wie feiner Sand,
über Hose und Gamaschen.

Es nagt an mir die Rattenbrut,
zu Staub zerfall‘n die Stunden,
der Mond zieht seine Runden,
abgelöscht des Feuers Glut
und unsre Zeit – entschwunden!


Hi, Anouk!

Wundervolle weich-lyrische Sprachfindung, schöne Bilder und Gleichnisse.

Leider einige Auftaktfehler und divergierende Hebungsmuster: Wenn ich darf:

Sacht rührt mich die Vergänglichkeit,
wohl sanfter noch als du.
Es naht so still mit leichtem Schuh
der Wanderer der Zeit,
setzt sich zu uns dazu.


Z1 kann man betont oder unbetont anlesen, also Fifty-fifty Fehlerquelle! Lösung: "So sacht rührt mich Vergänglichkeit,".
Hebungsschema dieser Strophe: 43433 Heber bei unbetontem Auftakt. Dieses Schema sollte auch für die folgenden Str. gelten.
Die letzte Zeile "setzt sich zu uns dazu" klingt eher gemeinsprachlich, hat wenig Lyrisches an sich. Altern.: "trägt uns die Schatten zu.".

Er zwingt die Kerze in die Knie
und zaubert dunkle Schatten,
das Abendrot entflieht den Matten
dichter Wolken, die er spie.
Der Nacht enthuschen Ratten.


Die vierte Zeile beginnt betont - und ist um einen Heber zu lang, folgt man dem Schema von S1! Lösung: "und Wolken, die er spie.".

Und unser Zeitglas, das einst voll
- wie rasch geht es zur Neige!
Und der frohen Grille Geige
spielt ihre Weise nun in Moll.
Ein Wort erstirbt: ich schweige.


Z3 beginnt betont, Z4 hat 4 Heber. Den Bindestrich in Z2 würde ich ans Ende von Z1 setzen. Altern. für Z3,4: "Der frohen Grille Zaubergeige // verklingt in wundem Moll."

Der Wanderer erhebt die Hand:
ein stummer Gruß, in seinen Taschen
fressen Löcher gierig Maschen.
Zeit rieselt leis, wie feiner Sand,
über Hose und Gamaschen.


Z2 hat 4 Heber, Z3 beginnt betont. Z4 beginnt betont und hat 4 Heber, Z5 beginnt betont. Lösung:
"Der Wanderer erhebt die Hand:
Ein stummer Gruß, die Taschen
verlieren löchrig ihre Maschen,
verstreuen Zeit wie Sand
durch Hose und Gamaschen.
"
So wiederholt sich das Schema 43433.

Es nagt an mir die Rattenbrut,
zu Staub zerfall‘n die Stunden,
der Mond zieht seine Runden,
abgelöscht des Feuers Glut
und unsre Zeit – entschwunden!


Die Verkürzung in Z2 braucht keinen Apostroph: "zerfalln". Z3 hat hier nur drei Heber, Z4 beginnt betont. Altern:
"der Mond zieht bleiern seine Runden.
In Feuers letzter Glut
ist unsre Zeit entschwunden.
"


Lass dich von Anfängerfehlern nichts ins Bockshorn jagen! In dir erwächst eine großartige Poetin!

Allergernst gelesen und beklugfummelt! :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

charis

  • Gast
Re: Der Wanderer der Zeit
« Antwort #4 am: August 31, 2015, 20:38:57 »
Liebe Anouk,

Ich freue mich, dass ich das auch noch entdecke! Du hast so ein unglaublich feines poetisches Gespür, wunderbare Bilder (ich mag besonders die Löcher, die die Machen fressen :)) Das hier habe ich ganz besonders genossen, weil es mir sehr nahe ist.

Lieben Gruß
charis