Autor Thema: Wiener Vorstadtromantik  (Gelesen 2571 mal)

Erich Kykal

Wiener Vorstadtromantik
« am: August 07, 2015, 13:22:11 »
Abgelebte Hausfassaden, blass und staubig, schmutzigbraun,
und dahinter die Gesichter sind recht ähnlich anzuschaun.
Aus den feuchten Innenhöfen wächst der Schimmel in die Luft,
ernste Kinder husten hölzern, bleich wie Tote aus der Gruft.

Vater will viel Zeit verbringen mit dem hübschen Töchterlein,
Mutter säuft sich ins Vergessen, lässt ihn mit dem Kind allein.
In der Wohnung gegenüber stellt man laut das Radio an,
schlägt sich blutig, wirft mit Möbeln, zetert schrill und vögelt dann.

Längst zum Abriss freigegeben, modert der Gemeindebau
vor sich hin. Die darin leben, sind wie die Tapeten grau,
die sich von den Wänden schälen, und im morschen Fensterstock
hängen welk die letzten Träume - und ein nasser Unterrock.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Aspasia

  • Gast
Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #1 am: August 07, 2015, 14:08:10 »
Verzeih mir den Ausdruck: Das ist SAUSTARK!

Mensch, Erich ... die Seite kannte ich an Dir noch nicht. Aber sie trifft voll meinen Nerv. Das Beste, was ich in Jahren gelesen habe, alle Quellen inbegriffen. Der nasse Unterrock ist eine Wucht. Immerhin wird noch gewaschen.

Erich Kykal

Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #2 am: August 07, 2015, 16:14:57 »
Hi, Aspasia!

Hab mir in letzter Zeit wieder mal all die Folgen von "Kottan ermittelt" angeschaut, einer zynisch-satirischen österreichischen Krimiserie aus den Achtzigerjahren (Absoluter Kult!).
Abgesehen vom abseitigen Humor, den schrägen Charakterstudien der Wiener Halb- und Unterwelt und dem typischen "Wiener Schmäh" zeichnet sich diese Serie auch durch die authentischen heruntergekommenen Schauplätze aus, die das alte, unsanierte und vergammelte Wien in all seiner Schrecklichkeit zeigen! Das hat mich zu diesen Zeilen inspiriert.

Ab und zu gibt es übrigens durchaus solche sozialkritischen Töne von mir zu hören - im neuen Buch "Tiefgänger" sind dem zwei ganze Kapitel gewidmet: Eins mit Sonetten und eins mit anders strukturierten Gedichten aus den letzten fünf Jahren. ;)

Vielen Dank für deine Begeisterung! :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: August 07, 2015, 16:27:36 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Aspasia

  • Gast
Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #3 am: August 07, 2015, 19:14:04 »
Ab und zu gibt es übrigens durchaus solche sozialkritischen Töne von mir zu hören - im neuen Buch "Tiefgänger" sind dem zwei ganze Kapitel gewidmet: Eins mit Sonetten und eins mit anders strukturierten Gedichten aus den letzten fünf Jahren. ;)


Ineressiert mich brennend. Kann ich das Buch von dir im Direktvertrieb erwerben?

Erich Kykal

Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #4 am: August 07, 2015, 19:53:45 »
Hi, Aspasia!

Von mir gibt's drei gebundene Bücher (Leineneinband mit Goldlettern, dreiseitiger Goldschnitt) und eine Doppel-CD.

1) WELTENWEGE - Best-of 2005-2010, 335 Seiten, 15 Euro
2) Doppel-CD "Weltenwege" - die besten 99 Gedichte aus dem gleichnamigen Buch, vom Autor gelesen, mit Musik, 15 Euro
3) SELTSAME SONETTE - 50 Sonette zu (farbigen) Bildern aus der Kunstgeschichte, 15 Katzensonette mit Grafiken des Autors, 140 Seiten, 15 Euro
4) TIEFGÄNGER - Best-of 2010-2015, 335 Seiten, 30 Euro

Gesamt also 75 Euro + Versandkosten. Natürlich auch einzeln bestellbar.

Zu ordern bei mir (kleine Auflage im Eigenverlag, im Buchhandel leider nicht erhältlich).
Das letzte Buch ist teurer, weil ich die älteren schon zu Sonderkonditionen anbiete, weil es eine kleinere Auflage hat als jene und weil die Preise für derlei um einiges gestiegen sind (Eigenkosten pro Buch: E 29,30.-). Außerdem hat es viel mehr Inhalt, da ich hier die Gedichte enger gestaffelt publiziere.

Bei Interesse tauschen wir per PN Zusendeadresse und Bankdaten aus.

LG, eKy
« Letzte Änderung: August 07, 2015, 19:55:16 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #5 am: August 07, 2015, 22:46:33 »
Hallo, Erich,

das ist scharf gezeichnet. Eine gelungene Milieustudie, die wenig Hoffnung verspricht.

Sehr gern gelesen.

LG gummibaum 

Erich Kykal

Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #6 am: August 08, 2015, 00:03:23 »
Hi, Gum!

Vielen Dank für das positive Echo! :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #7 am: August 08, 2015, 15:09:09 »
Lieber Erich,

"saustark" gehört nicht zu meinem Sprachschatz, aber "stark!" lasse ich gerne hier.
Ich selbst kenne diese ausgeprägt deutliche Szenerie nur im Kleinen (gab es in unserem Städtchen auch!), im Großen meist aus Schilderungen des "Hinterhofberlins", das aber ebenso deutlich wie Du es hier schilderst.

Ich ließe "trocken" husten statt "hölzern".

Immer und immer wieder waren diese "Stätten" unheilschwanger.
Mich wundert es, daß der Sozialstaat gerade hier auf ganzer Linie versagt.
"Denkmalschutz" darf kein Argument sein - in welche Richtung auch immer.


Starkes, sehr starkes Gedicht.
Und - wie auch Ilka anmerkte - ein kräftiger Interruptus.


Lieben erhitzten Gruß
von
Cyparis



bei 37° im Schatten
« Letzte Änderung: August 08, 2015, 16:49:29 von cyparis »
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #8 am: August 08, 2015, 16:01:47 »
Hi, Cypi!

Könntest ja stattdessen "schweinestark" sagen! ;) ;D

Auch ich habe als Bub in Linz noch diese "Durchhäuser" und den Hinterhofcharme der Nachkriegszeit miterlebt. Als viele Straßen noch große Lücken hatten durch die weggebombten Bauten, erhielt man viele Einblicke in diese wenig erbaulichen Menschenwerke! Es roch dort auch immer muffig und abewohnt, war staubig, von Fäule oder Schimmel angefressen. Uns Kinder scherte das wenig - wir haben mit Begeisterung dort gespielt und gestöbert!

LG, eKy


Hier noch eine anders strukturierte Version für die Feinde langzeiliger Werke:

Abgelebte Hausfassaden,
blass und staubig, schmutzigbraun,
und dahinter die Gesichter
sind recht ähnlich anzuschaun.
Aus den feuchten Innenhöfen
wächst der Schimmel in die Luft,
ernste Kinder husten hölzern,
bleich wie Tote aus der Gruft.

Vater will viel Zeit verbringen
mit dem hübschen Töchterlein,
Mutter säuft sich ins Vergessen,
lässt ihn mit dem Kind allein.
In der Wohnung gegenüber
stellt man laut das Radio an,
schlägt sich blutig, wirft mit Möbeln,
zetert schrill und vögelt dann.

Längst zum Abriss freigegeben,
modert der Gemeindebau
vor sich hin. Die darin leben,
sind wie die Tapeten grau,
die sich von den Wänden schälen,
und im morschen Fensterstock
hängen welk die letzten Träume
- und ein nasser Unterrock.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #9 am: August 08, 2015, 16:53:09 »
Interessant!

Ich glaube, das könnte ein Variante sein, die Aspasia noch besser gefällt als das langversige Original.
Der Schönheit treu ergeben
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Erich Kykal

Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #10 am: August 08, 2015, 17:10:38 »
Hi, Cypi!

Ja. Mir persönlich gefällt es nicht so recht, wenn sich nicht alle Zeilenenden reimen, daher bevorzuge ich die - für mich auch übersichtlichere - langzeilige Version.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

charis

  • Gast
Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #11 am: August 10, 2015, 19:45:11 »
Ach ja der "Kottan", wirklich kultig, vor allem die ersten Folgen! Könnte aber auch Brenner sein. Mittlerweile gibt es ja einige so ungeschminkte Schauplätze, aber damals war so etwas im Hauptabendprogramm noch nicht selbstverständlich.

Ganz ungewohnt von dir, ein echter Hammer dein Gedicht! Egal, ob in langen oder kurzen Zeilen!

Lieben Gruß
charis

cyparis

Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #12 am: August 10, 2015, 20:08:58 »
Welcher Kottan auch immer -

(Peter Vogel war auch nicht übel):
bissig-schmissig, wenn man mit dem gemütlicheren, aber tiefgründigeren "Polt"vergleicht.

Alles im Gedicht steht vor mir.


Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #13 am: August 10, 2015, 21:47:14 »
Hi, Charis, Cypi!

Ich habe natürlich alle Folgen auf DvD! Mein Lieblingskottan war der dritte: Lukas Resetarits.

Wusstet ihr, dass sich damals so viele "brave Bürger" beim ORF beschwerten, dass man die letzten 5 Folgen schießlich gar nicht mehr drehte?

Alles war bereit, die Schauspieler und die Crew engagiert, die Drehorte präpariert - da kippte der damalige ORF-Intendant die Serie! Die letzten fünf nie gedrehten Folgen gibt es nur als Hörspiel auf 5 CDs, aufgenommen 2009, als viele der Originalschauspieler leider schon verstorben waren. Dabei auch: eine Sammlung der "deftigsten" Beschwerden, deren Hunderte es bei jeder Sendung einer Folge gab! (Normal waren bis maximal 20 damals)

Der Kottan war seiner Zeit um Lichtjahre voraus. Damals waren wohl noch zuviele alte Nazis unterwegs, die fanden so eine Satire auf die Polizei und das Bürgertum natürlich gar nicht witztig! Ein "Krimi" hatte ernst zu sein. Punkt! Schade, dass diese Betonschädel damals gewonnen haben!

Vielen Dank für eure kundigen Zeilen! :)

LG, eKy

« Letzte Änderung: Januar 10, 2021, 13:24:42 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Wiener Vorstadtromantik
« Antwort #14 am: August 10, 2015, 23:45:40 »
Das kann ich immer wieder lesen, Erich. Erstaunlich, wie spannungsreich gerade die Langzeile gestaltet sein kann. Keine Feindschaft meinerseits, eher ein Ansporn in dieser Richtung.

LG g