Autor Thema: Epiphanie  (Gelesen 2942 mal)

Erich Kykal

Epiphanie
« am: Dezember 25, 2014, 11:48:58 »
Du Augenblick, der mich aus Dingen formte,
die in dir waren, rings um mich herum,
der Menschen Dinge nicht, das Wohlgenormte,
und dienende Natur, bezähmt und stumm -
gedenken will ich deiner alle Tage!

Du Augenblick warst wild und ohne Zügel,
ein Wald der Märchen wie aus ferner Zeit,
ein Sturmgewitter über nacktem Hügel,
und wie erträumte Ozeane weit -
die Szenenbilder einer alten Sage!

Du Augenblick hast mich aus dir geboren,
in deinen Bildern ging ich einst einher,
und habe ich auch manche schon verloren,
verbraucht und trag an andern überschwer -
ich finde selten einen Grund zur Klage!

Du Augenblick behieltest meine Freude
und hegst sie still für jeden neuen Tag,
auf dass ich keinen Augenblick vergeude,
der nach dir ist und fürder kommen mag -
ein fester Stand, aus dem ich Leben wage!
« Letzte Änderung: Januar 07, 2015, 20:15:56 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re:Epiphanie
« Antwort #1 am: Dezember 25, 2014, 19:30:11 »
Hallo Erich,

schöne Danksagung an den geglückten Griff des Entstehungsmomentes in die Tasten der rauschhaften Akkorde, deren Nachlassen noch lange kein Verklingen bedeutet. Hier ist viel Kraft spürbar, und die strophenübergreifenden Reime im jeweils letzten Vers halten doch alles gut zusammen. Der Titel leuchtet mir nicht ganz ein und die Betonung des "und" in 1/4 (vor "stumm") macht mir Mühe.

Erfreut gelesen
LG gummibaum

Erich Kykal

Re:Epiphanie
« Antwort #2 am: Dezember 26, 2014, 00:52:30 »
Hi, Gum!

Hier ist nicht der physische Entstehungsmoment gemeint, sondern quasi die Geburt eines neuen Bewusstseins aus einem Augenblick der Klarsicht heraus, der zu einer wesentlichen Veränderung führte.

Demgemäß der Titel. Übersetzt: "Offenbarung" (was hier allerdings nicht religiös gemeint ist - leider wird der Begriff meist sofort in dieser Richtung gedeutet!)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re:Epiphanie
« Antwort #3 am: Dezember 26, 2014, 13:09:47 »
Ah, danke. Ich kannte nur die religiöse Bedeutung und habe so auch das Moment des Durchbruchs zu neuen Horizonten übersehen.

LG gummibaum 

charis

  • Gast
Re:Epiphanie
« Antwort #4 am: Dezember 26, 2014, 13:14:28 »
Lieber Eky,
Für diesen so schönen und klaren Gedanken, der hinter diesem Gedicht steckt, hätte das Gedicht für meine Gefühl mehr sprachliche Schlichtheit vertragen.
Die Botschaft tut sich schwer aus dem etwas zu dichten Unterholz der Wortkunst emporzuwachsen und der Titel unterstreicht dies noch.
Lieben Gruß
charis

Erich Kykal

Re:Epiphanie
« Antwort #5 am: Dezember 26, 2014, 17:41:07 »
Hi, Charis!

Zu meiner Entschuldigung: Ich hatte zuvor in meinem geliebten Rilke geschmökert - und wollte der Wortkunst einfach mal die Zügel schießen lassen, das Herz so übervoll der schönen Sprache! ;) :D

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Epiphanie
« Antwort #6 am: Dezember 28, 2014, 14:03:32 »
Zitat:


Zu meiner Entschuldigung: Ich hatte zuvor in meinem geliebten Rilke geschmökert - und wollte der Wortkunst einfach mal die Zügel schießen lassen, das Herz so übervoll der schönen Sprache!


Das ist Dir hervorragend gelungen - einfach berauschend!
Auch ich war irritiert vom Titel (Erscheinung), aber Deine Erklärung stellt mich zufrieden.


Hingerissenen Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re:Epiphanie
« Antwort #7 am: Dezember 28, 2014, 18:47:25 »
Ei, vielen Dank, liebe Cyparis!

"Epiphanie" hat mehrere Bedeutungen, eine davon ist eben "Offenbarung". Die Bedeutung "Erscheinung" wird meist in religiösem Kontext strapaziert: "Erscheinung des Herrn". "Offenbarung" kann aber auch etwas anderes sein als eine Offenbarung des Glaubens - und genau sowas ist hier gemeint: ein tief empfundener Augenblick, der ein Leben ändert!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Epiphanie
« Antwort #8 am: Dezember 28, 2014, 19:49:08 »
Ja, lieber Erich,

und ich verknüpfe gerne Beides miteinander -
denn die Erscheinung eines Regenbogens, Abendrotes, flammenden Ginsterbusches oder geliebten Gesichts (um nur einige zu nennen) kann für mich eine Offenbarung sein!
Wie ein Gedicht auch - ja, vor allem wie ein Gedicht.
Ganz ohne geistigen oder religiösen Hintergrund. :)


Lieben Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Curd Belesos

Re:Epiphanie
« Antwort #9 am: Januar 05, 2015, 13:16:27 »

Moin moin Erich,

ein Gedicht, das zu Nachdenken zwingt, mit einer schönen Melodie.

Doch es fällt mir sehr schwer, die 1. Strophe flüssig zu lesen und auch bei der dritten werde ich aus dem Takt geworfen, da mich in beiden die vierte Zeile ins Stolpern bringt, zumal die Silbenzahl mich nicht glücklich macht.  

S1/Z2-10 Silben
S1/Z4-11 Silben

S2/Z2-10 Silben
S2/Z4-10 Silben

S3/Z2-10 Silben
S3/Z4-08 Silben

S4/Z2-10 Silben
S4/Z4-10 Silben

Einen nachdenklichen Gruß

CB
Nur wenn du frei bist " IF " ....dann bist du ein Mensch

Erich Kykal

Re:Epiphanie
« Antwort #10 am: Januar 05, 2015, 19:03:10 »
Hi, Curd!

Das Silbenschema in diesem Gedicht lautet für alle Strophen: 11 - 10 - 11 - 10 - 11

Das ergibt sich aus dem Wechsel von weiblichen und männlichen Kadenzen. Die Heberzahl beträgt immer 5.

Bei S3Z4 gebe ich dir recht - die Zeile hatte einen Heber zu wenig. Vielen Dank für den Hinweis! :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: August 01, 2021, 18:18:11 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

galapapa

Re:Epiphanie
« Antwort #11 am: Januar 06, 2015, 15:56:56 »
Hallo Erich,
Dein Gedicht habe ich zwar inhaltlich noch nicht ganz erfasst; da muss ich es noch ein paar Mal lesen. Es scheint um dem Augenblick der Entstehung des Lebens, und zwar das des lyrischen Ichs zu gehen. Es könnte aber auch eine Art Neugeburt, ein sich Neuentdecken gemeint sein.
Die Sprache aber, die wirkt auch ohne den Inhalt. Mit einer erstaunlichen Routine schreibst Du Texte, die Rilke ohne Zögern auch in sein Repertoire übernommen hätte.
Interessant ist das Reimschema: In den letzten Versen wird immer der gleiche Reim verwendet.
Ich hab nun lang nichts mehr von Dir gelesen und ich muss sagen, Du hast nichts verlernt. Chapeau!
Alles Gute fürs neue Jahr!
Herzlichen Gruß!
Charly

Erich Kykal

Re:Epiphanie
« Antwort #12 am: Januar 06, 2015, 17:26:34 »
Hi, Charly!

Vielen Dank für das freundliche Lob! Ich las eben einen Text von dir und darf das Kompliment zurückgeben: Auch du hast nichts verlernt! Weiter so! :)

Zur Klärung des Inhaltes darf ich dich auf Antwort Nr. 7 verweisen - der Titel des Gedichtes weist schon darauf hin, worum es geht: Eine Art geistiger Wiedergeburt, die muss ja nicht unbedingt religiös motiviert sein. Ein einschneidendes Erlebnis bewegt zum Umdenken, zu einem neuen Kurs auf dem Lebensweg, vielleicht führt es sogar zu einem ganz anderen Charakter!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Daisy

Re:Epiphanie
« Antwort #13 am: Januar 07, 2015, 19:24:56 »
Hallo Erich,

den vorangegangenen Kommentaren möchte ich mich, soweit es um das Herausstreichen deines enormen Beherrschens der Wortkunst geht, voll und ganz anschließen.

Was Vers 4 in der ersten Strophe betrifft, muss ich wie gummibaum und Curd anmerken, dass ich hier ebenfalls ins Stocken gerate. Die Stelle "..., beruhigt und stumm -" liest sich einfach nicht so flüssig, wie man das von deinen Versen sonst gewöhnt ist.

Ansonsten natürlich wieder Lyrik vom Feinsten!

LG Daisy

Erich Kykal

Re:Epiphanie
« Antwort #14 am: Januar 07, 2015, 20:23:56 »
Hi, Daisy!

Okay - soll sein! Ich habe das "beruhigt" durch ein "bezähmt" ersetzt - hoffe, das passt besser. Hatte auch "gerahmt", "gefasst", "gepflügt" usw. im Angebot.

Seltsam - ich hatte bei "beruhigt und stumm" nie den Eindruck, es wäre nicht flüssig. Vielleicht liegt es daran, dass ich das "h" nicht spreche - das "u" geht bei mir direkt und rasch in ein "i" über, so wie wenn einer "Ui" sagt. Das "u" allerdings bekommt etwas mehr Betonung und wird einen Hauch länger gehalten.

Vielen Dank für das lyrische Dauerlob - immer wieder gern vernommen und verschämt verinnerlicht! ;) :) (Vor allem, wenn es von jemandem kommt, der sich in punkto lyrischer Präsenz sicher nicht weniger wacker schlägt!!!)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Oktober 01, 2020, 17:12:05 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.