Lieber Erich,
für dieses Gedicht gebührt dir ein XXL-Lob. Es ist nicht nur inhaltlich und technisch rund, sondern geht mit dem Erhabenen, das du sonst bevorzugst (und das mir oft Probleme bereitet), zurückhaltend um. Was mir am meisten gefällt: Du bist bei deinen 24 Versen mit einigen wenigen Adjektiven ausgekommen: grün, tief, klar, licht, silberhell (die Adverbialbestimmung im 10. Vers rechne ich nicht mit). Fast alle Attribute stecken in den Substantiven drin und müssen nicht extra erwähnt werden, und/oder sie kommen durch Ergänzung oder Gegensätzlichkeit zum Ausdruck: Düsternis/Schatten/Sorgen, Kummer/Schattenkleid, Dunkelheit/Helle, Weh/Tränen. Die Verben sind ebenfalls überlegt gewählt, weder zu banal noch zu prätentiös, sondern kurz, griffig und ausdrucksstark.
Dein Gedicht ist ein Lehrbeispiel, wie man in einen Text mit gut gewählter Sprache eine Atmosphäre heineinbringt, die dem Leser Genuss bereitet, statt ihn mit Adjektiven zu überfrachten oder mit gedrechselten Verben zu malträtieren, die man eher als Silbenprozessionen bezeichnen sollte.
Zum Bild: Düsternis und Sorgen leiten das Gedicht ein, aber noch in dieser ersten Strophe federn der Mut und die stille Ruhe das Leid des Menschen ab. Es gibt Hoffnung, denn es gibt einen Stein, der sich erweichen lässt und die Sorgen auf sich nimmt, wie aus der zweiten Strophe zu erfahren ist. Aber nicht genug damit: Er verarbeitet diese Sorgen zu einer reinigenden Substanz, die eine Quelle beim Rieseln über den Stein aufnimmt und von Menschenhänden geschöpft wird: frisches Wasser, frischer Mut, neues Leben.
Eigentlich ist dies ein Ostergedicht. Ein Stein, der das Leid der Menschen absorbiert, in Dunkelheit versinkt (stirbt), doch das gesammelte Leid als gewandelte Kraft in einer Quelle den Menschen zurückbringt - ist das nicht dem Leben Jesu vergleichbar?
Aber egal, welche Interpretationen möglich sind - das Gedicht ist eine Meisterleistung.
Lieben Gruß und einen schönen Sonntagsausklang,
Aspasia