Als ich den Hauptweg des Friedhofs entlangging, sah ich von weitem einen alten Mann auf einer Holzbank sitzen, seine hochgewachsene knorrige Gestalt nach vorne geneigt und gegen einen Gehstock gestemmt, dessen Griff er mit beiden Händen hielt. Ich kam näher und erkannte ihn sofort, obwohl er noch älter war, als ich ihn in Erinnerung hatte. „Vater?“ fragte ich irritiert. „Was machst du hier?“
Seine hellgrauen Augen blickten mich an. „Ich habe auf dich gewartet. Ich wollte dir danken, daß du dich um das Grab kümmerst.“ Ich dachte angestrengt darüber nach, wessen Grab er wohl meinte, fand aber in meinem Gedächtnis nicht den geringsten Anhaltspunkt. Während mein Kopf noch arbeitete, fiel mir auf, daß das Gesicht meines Vaters unter dem weißen Haar durchscheinend wirkte, und unwillkürlich mußte ich an einen Engel denken.
„Wo ist deine Mutter, warum hast du sie nicht mitgebracht?“ unterbrach er meine Gedanken.
„Es ist zu weit und zu umständlich, sie abzuholen und wieder zurück nach Hause zu fahren.“
Er blickte mich fragend an.
„Weißt Du, sie mußte umziehen … sich eine kleinere Wohnung nehmen, die bezahlbar ist, weiter draußen. Die Rente reicht gerade so.“
Er schüttelte verständnislos den Kopf und stand auf. „Ich begleite dich ein Stück. Dort hinten gibt es auch Bänke, da kann ich mich wieder hinsetzen.“
Während wir gingen, wurde mir bewußt, daß ich meinen Vater vor vier Jahren zum letztenmal gesehen hatte. Kein Wunder, daß ich ihn jünger in Erinnerung hatte. Am Steinbrunnen angekommen, setzte er sich auf die Bank an der Wegkreuzung, während ich eine Gießkanne vom Metallständer nahm und Wasser schöpfte.
„Ich hätte deine Mutter gerne mal wiedergesehen,“ rief er mir zu. „Aber eigentlich habe ich alles immer nur falsch gemacht.“
„Unsinn,“ beruhigte ich ihn. „Du hast zwar einiges auf dem Kerbholz, aber so schlimm ist es auch wieder nicht. Ich weiß, daß sie dich vermißt. Du wartest hier, und wenn ich fertig bin, nehme ich dich mit. Ich bringe dich nach Hause - zu Mutter.“
Während ich die randvolle Gießkanne zum Grab schleppte, überfiel mich eine seltsame Trance. Die Flure, die mir vertraut sein sollten, kamen mir plötzlich unwirklich vor, geradezu gespenstisch. Wie ein Schlafwandler fand ich das richtige Grab und ließ das Wasser auf die Pflanzen perlen - eine Ewigkeit lang, wie mir schien. Als die Gießkanne leer war und ich die Augen hob, blieb mein Blick auf dem Grabstein haften, der in weißer Inschrift den Namen meines Vaters trug. Ich drehte mich um und sah zur Wegkreuzung ... die Bank war leer.