Autor Thema: Erbsünde  (Gelesen 1029 mal)

Erich Kykal

Erbsünde
« am: Februar 07, 2014, 10:42:07 »
Diesen Mann in den Rabatten,
seht ihn an - was in ihm lauert,
wird von Blicken untermauert,
hungernd wie von Kellerratten,

während er ganz unverhohlen
an sich spielt. Er lässt sich sehen
von den Kindern, die da gehen,
und hätt manches gern gestohlen.

O du Albtraum aller Väter!
Dass sich bloß die Augen weiten,
wird dir keinen Trost bereiten.
Der Missbrauchte wird zum Täter,

muss es fühlen, muss es fassen,
muss die Angst, die Nähe spüren,
Schlüssel finden zu den Türen,
die sich nie mehr schließen lassen.

Warme Haut in leisem Zittern,
wenn sich deine Sinne hastend
drüber breiten, alles tastend,
was die nackten Wünsche wittern!

Und das Kind, das deine Triebe
tragen muss ein ganzes Leben,
was wird ihm Erlösung geben?
Etwa deine Art von "Liebe"?
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re:Erbsünde
« Antwort #1 am: Februar 07, 2014, 23:28:50 »
Hallo Erich,

eine eng mit der verletzten und belasteten Kinderseele verbundene Stimme der Anklage spricht aus diesen Versen. Ein sensibles und eindringlich wirkendes Gedicht. Bilder aus Erlebnissn mit Exhibitionisten leben in der Seele fort, machen es später schwer, eine Liebesbeziehung einzugehen und Erfüllung zu finden.   

Sehr gern gelesen
gummibaum

 

Erich Kykal

Re:Erbsünde
« Antwort #2 am: Februar 08, 2014, 10:52:01 »
Hi, Gum!

Exhibitionismus ist ja nur eine (vielleicht letzte) Vorstufe zum eigentlichen Missbrauch, wie das Gedicht in seinem Verlauf ja beschreibt.

Dass als Kind Missbrauchte später selber Täter werden, ist keine Seltenheit. Geprägt durch Erlebnis sozusagen auf diese Art der Triebauslebung, "erben" sie die unselige Fixierung von denen (daher der Titel), die sie ihnen in sensiblem Alter aufgezwungen haben. Das ist natürlich keine fixe Regel - es gibt genug Täter, die als Kinder nicht missbraucht wurden, und auch bei weitem nicht jeder einst Missbrauchte wird auf diese Konstellation fixiert - aber es kommt oft genug vor, um es auch mal so verarbeiten zu können.

Zugrunde liegt dem Text eine Episode von vor 15 Jahren, als ich noch an einer anderen Schule war - da hatten wir so einen Hinterm-Busch-Hocker vor der Schule, der sich vor den Kindern auf dem Schulweg befriedigte, einige sogar ansprach, bzw. zu anderer Gelegenheit unverfänglich Kontakt suchte. Es gelang uns zwar, ihn zu verscheuchen, aber er wird sein Unwesen sicher anderswo weiter getrieben haben. Ob der nun ein ehemaliger Missbrauchter war, weiß ich natürlich nicht, aber der Gedanke kam mir natürlich.

Das Fatale an solchen Tätern ist: Ihnen fehlt oft das Unrechtsbewusstsein für ihr Handeln. Kinder tun etwas deshalb nicht nicht, weil es "Unrecht" ist, sondern weil es verboten ist und sie Angst vor möglichen Konsequenzen haben. Grundsätzlich aber sind sie neugierig. Wie Kinder sind viele dieser Täter selbst unreif und haben nie gelernt, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen oder etwaige Konsequenzen für die Beteiligten zu überdenken. sie sind naiv-egoistisch wie die Kinder, die sie begehren, und so handeln sie dann eben auch - mit entsprechenden möglichen Folgen für ihre Opfer.

Diese (mögliche) Kette, diesen potentiellen Teufelskreis wollte ich im Gedicht beschreiben. Es soll keine Rechtfertigung für ihr Tun sein - jeder Erwachsene ist nun mal für sein Handeln verantwortlich, aber es ist auch nun mal so: Auch die Täter waren einst Kinder, möglicherweise selbst verletzte, und vielleicht, ja, vielleicht hilft das zu verstehen, dass auch sie Menschen sind, keine Monster und Dämonen, obwohl sie für andere später durchaus dazu werden können!

Das Thema ist heikel, und ein paar Strophen über einen von vielen möglichen Aspekten wird dem sicher nicht gerecht, das weiß ich schon. Es ist eben nur EIN möglicher Blickwinkel, der den Täter nicht völlig dämonisiert, sondern zeigt, dass auch er nur ein Mensch ist - was immer das heißen mag. So spricht ihn der Text zuletzt auch persönlich an als einen, dem man zutraut, über sich und sein Agieren nachzudenken und vielleicht die Größe zu finden, diesen Kreis des Widernatürlichen zu durchbrechen. Da lehne ich mich schon weit aus dem sozialen Fenster, ich weiß - vertuschte man solche Vorkommnisse früher gern oder schwieg sie einfach tot, um den Ruf der Gesellschaft "sauber" zu halten, so übertreibt man nun oft in die andere Richtung und bauscht die Fälle reißerisch auf, was meines Erachtens den Beteiligten zumindest ebenso sehr schadet wie das Verleugnen und Wegsehen davor. Extreme sind niemals zielführend, soviel sollte uns die Welt gelehrt haben.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Erbsünde
« Antwort #3 am: Februar 08, 2014, 15:18:42 »
Hallo, Erich -

Dass als Kind Missbrauchte später selber Täter werden, ist keine Seltenheit.


Genauso habe ich dieses mahnende Gedicht gelesen, das ein gut Stück Einfühlungsvermögen zeigt.
Das reine Schwarz-Weiß gibt es nirgendwo und Dein Hinterfragen ist äußerst menschlich, auch wenn es für Betroffene unbequem sein mag.
Es ist ja so einfach, ein Urteil zu fällen!

Eine ungewöhnliche, aber genau passende Form hast Du genommen.
Lediglich hungernd wie von Kellerratten
könnte in meinen Augen eine Änderung vertragen:
hungernd wie bei Kellerratten/hungrig wie bei Kellerratten.

Nur als Bemerkung!

Sehr nachdenklich werdend gelesen, einmal nicht nur aus der Sicht der (späteren) Opfer.


Gruß
von
Cyparis!
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re:Erbsünde
« Antwort #4 am: Februar 08, 2014, 19:45:28 »
Hi, Cypi!

Danke für deine Gedanken - sie sprechen die Quintessenz der Botschaft aus.

An der Zeile, die du monierst, finde ich nichts Nachteiliges. Liegt wohl an akkustischem Lokalkolorit, dass es für den einen wohlklingt und für den anderen nicht.

LG, eKy
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Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Ingo Baumgartner

Re:Erbsünde
« Antwort #5 am: Februar 09, 2014, 08:49:08 »
Das Verborgene, Verschwiegene, Verdrängte in besten Versen hervorgeholt. LG Ingo

gummibaum

Re:Erbsünde
« Antwort #6 am: Februar 09, 2014, 11:45:36 »
Lieber Erich,

ich bin deinem Gedicht nicht gerecht geworden (es klang die letzte Zeile nach) und danke für deine Antwort. Sigmund Freud scheint bestätigt, was die Fixierung ans Trauma und die zwanghafte Wiederholung der Situation, die zum Trauma führte, angeht. Was mir an dem Gedicht besonders gefällt, sind die Wechsel der Perspektive und die Bedrängnis, unter die das einstige Opfer gerät (dreimaliges "muss" in eineinhalb Kurzzeilen), wenn es in allseits aufgebrochenen Räumen wie irr nach sich selbst tastet.  Die vierte Strophe, die mehreres überlagert, hat nochmals speziellen Reiz für mich.

Ein schönen Sonntag  wünscht dir
gummibaum

Erich Kykal

Re:Erbsünde
« Antwort #7 am: Februar 09, 2014, 13:27:22 »
Hi, Ingo, Gum!

Danke für eure Gedanken zu dieser heiklen Thematik.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.