Autor Thema: ER und ICH  (Gelesen 1123 mal)

Erich Kykal

ER und ICH
« am: Dezember 31, 2013, 14:53:03 »
Im Tankstellenshop steht ER an der Kasse, so als hätte er nichts anderes mehr zu tun. Sein ausgebeinter Ehrgeiz klebt überall ringsum an den Wänden, rinnt verwesend, sich zersetzend hinab hinter die Regale mit den überteuerten Süßigkeiten und abgelaufenen Zeitschriften, die nur so aussehen, als enthielten sie Interessantes.
Da steht er nun mit seinem leeren Blick, der in nebligen Fernen einer abgebrochenen Vergangenheit nach Rechtfertigung stochert wie die Hände ertrinkender Matrosen, halb schicksalsergeben schon und entrückt im Eismeer treibend, aber immer noch lose zappelnd und zuckend, als hoffte ein allerletzter Funken Gehirntätigkeit noch auf Rettung in letzter Sekunde vor einem endgültigen Geschick.
Er fragt verloren, ob man eine Bonuskarte wolle, und es klingt tatsächlich ein wenig nach: "Hilfe, ich habe noch Träume - holt mich hier raus!", aber nicht sehr. Das meiste davon riecht nur noch streng nach verpassten Gelegenheiten und vertanen Chancen. Das hier ist sein Leben. Das ist alles, was geblieben ist von den hochherzigen Hoffnungen und edlen wie gierigen Zielen: Eine Endstation mit schmierigen Händen und eiskalten Zehenspitzen. Eine Abstellkammer des Schicksals, aus der heraus er die Welt auch noch freundlich anlächeln und höflich bedienen soll. Und was kommt danach?
Er redet sich seit Jahren ein, dass das keine Rolle mehr spielt, und je älter und unansehnlicher er wird, desto erfolgreicher scheint er darin zu sein. Er ordnet die verstaubten Zeitschriften, dreht die Etiketten der ungekühlten Bierdosen nach vorne und möchte daran glauben, dass er es eigentlich gut hat. Es gelingt ihm nicht wirklich.
Ich sehe ihn nur an und frage mich frierend: An welcher Art Tankstelle arbeite ICH wohl...?
« Letzte Änderung: Dezember 31, 2013, 22:14:34 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Ingo Baumgartner

Re:ER und ICH
« Antwort #1 am: Dezember 31, 2013, 16:11:05 »
Imponierende ER-Ich Geschichte. LG Ingo

cyparis

Re:ER und ICH
« Antwort #2 am: Januar 15, 2014, 13:09:58 »
Lieber Erich,

das ist eine Delikatesse für Liebhaber  knapper Betrachtungen.
Mag auch mein persönlicher Rückschluß ein anderer* sein - in Deinem Sinn sind ramschverkaufende Tankwarte und gequälte Wissenverkaufende Lehrer sehr verwandt.

Bei Beiden bleibt der Blick auf das Danach interessant -
wie halten sie es mit ihrem Leben, sobald sie aus der Hamstermühle zu Boden geklettert sind?

Ich hab das Stückerl unheimlichst gern gelesen!

Cyparis





« Letzte Änderung: Januar 16, 2014, 10:15:31 von cyparis »
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re:ER und ICH
« Antwort #3 am: Januar 15, 2014, 17:46:37 »
Hi, Ingo!

Danke für den Zuspruch!

Hi, Cypi!

Da du weißt, dass ich Lehrer bin, fiel dir die Analogie zu erkennen natürlich leicht! Aber drauf kommen muss man! Wunderbar analysiert - Treffer, Schlachtschiff versenkt! ;D

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.