Autor Thema: Das traurige Mädchen am Fenster  (Gelesen 1062 mal)

Erich Kykal

Das traurige Mädchen am Fenster
« am: Dezember 27, 2013, 16:00:29 »
Durch feuchte Strassen treiben Blätter ohne Erben,
und aus den Ecken riecht es modernd nach Zement.
Auf nassen Fensterrahmen gehen Tropfen sterben,
die eben noch ein Bild aus kalten Scheiben weinten,
von einem Fremden draußen, den dein Herz nicht kennt,
und blinden Träumen drin, die einen andern meinten.

Ein Augenblick der Wärme, in der Zeit verloren,
die uns wie welke Blätter durch die Tage treibt.
Ein kurzer Nachgedanke, schüchtern, totgeboren,
dann will schon Oberflächlichkeit die Leere tasten,
die stets nach der Verleugnung im Gedächtnis bleibt,
um sie mit platten Dringlichkeiten auszulasten.

Durch feuchte Strassen treiben viele fremde Seelen,
einander wie sich selber seltsam unbekannt.
Solange sie verstaubte Wichtigkeiten zählen,
vermeiden sie, sich den Versäumnissen zu stellen,
die wie Gefolterte im blassen Bußgewand
aus jedem Knopfloch ihrer Regenmäntel quellen.
« Letzte Änderung: Januar 08, 2014, 22:47:42 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Das traurige Mädchen am Fenster
« Antwort #1 am: Dezember 30, 2013, 20:17:02 »
Lieber Erich Kykal -

da mußte ich mir schon Zeit nehmen, um all die Schönheit auf mich wirken zu lassen.
Und noch einmal, und noch einmal.
Phantastisch, wie Du mit Bildern eine Innerlichkeit malen kannst!

Aber der letzte Vers ist in meinen Augen unmöglich; beinahe hätte ich schief gegrinst.
Sag mir ganz ehrlich: paßt er zu dem ganzen Gedicht?

Lieben und verwirrten Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re:Das traurige Mädchen am Fenster
« Antwort #2 am: Dezember 30, 2013, 23:37:48 »
Hi, Cypi!

Vielen Dank für die lobende Rückmeldung!

Also, mir gefällt die Conclusio sehr gut. Ich finde das Bild auch nicht komisch oder so. Klar, wenn man an Cartoons denkt, wo sich solche Mäntel oder die Zeichentrickfiguren darin aufblasen und irgenwas rausquillt, bis alles platzt und explodiert, dann schon. ;D

Aber hier denke ich an den Mantel eher als Gleichnis für ein Seelenkorsett aus Regeln und gesellschaftlichen Normen, Ängsten und Selbstverleugnung, der das, was sich durch all die dadurch verpassten Chancen und Gelegenheiten innerlich aufstaut, zurückhält, bis es hervorquillt wie im Gedicht beschrieben. All das Verleugnete eitert heraus und zeichnet uns armselige, gehemmte, eilig weitereilende Feiglinge für's Leben...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re:Das traurige Mädchen am Fenster
« Antwort #3 am: Dezember 31, 2013, 14:32:53 »
Hallo Eky,

schon die Blätter sind hier mehrdeutig, können es doch auch beschriebene Blätter ohne Fortsetzung (Erben) sein. Scheiben, Regen und Tropfen drücken deutlicher aus, was dieses Mädchen sucht und was in ihm vorgeht. Es schafft sich Bilder von dem einen, der es wärmt und den es nicht geben kann. Schön ist in der reflektierenden zweiten Strophe die Übernahme des abgerissen davongewehten Blattes als Metapher jür jeden einzelnen, dem die Wärme in Weite der Zeit entglitten ist. Ebenso erlesen ist der zeitliche Übergang von Verlustgefühlen, über Erinnern (Nachgedanke) hin zur einer Ausfüllung der Leere durch Alltagseinerlei ausgedrückt. Die dritte Srophe, den vielen zugedacht, denen Verlustschmerz widerfahren ist und gegen erträglichen Nonsense ausgetauscht wurde, arbeitet sprach fein malend heraus, wie diese "Seelen" selber daran mitwirken, sich selbst und andern fremd zu bleiben. So schließt sich hier der Kreis zu dem Fremden in der ersten Strophe logisch.

Sehr, sehr gern gelesen. Ein tolles Gedicht!
LG von gummibaum

Erich Kykal

Re:Das traurige Mädchen am Fenster
« Antwort #4 am: Dezember 31, 2013, 14:58:28 »
Hi, Gum!

Vielen Dank für diese profunde Analyse!

Wenn ich dichte, schreibe ich eigentlich mehr oder weniger vor mich hin, denn ein Großteil meiner Aufmerksamkeit gilt dabei Versmaß und Reimen. Der rote Faden folgt eher einer vagen Ahnung in meinem Unterbewussten als einem vorgefassten festen Plan. Dennoch fügen sich meine Gedichte früher oder später so, dass eine veritable Conclusio bei rausschaut oder sich irgendein Kreis schließt. Es driftet auch immer gern ins Philosophische, egal, wie es angefangen hat. Sogar bei Naturbeschreibungen... :D

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Daisy

Re:Das traurige Mädchen am Fenster
« Antwort #5 am: Januar 08, 2014, 22:31:40 »
Hallo Erich,

bei diesen bemerkenswerten Versen entsteht eine ganze Reihe toller Bilder, die sehr tief und berührend auf mich wirken.
Hier zeigt sich wieder ganz besonders dein unglaublich feines Sprachgefühl und die beeindruckende Wortwahl. Große Klasse!

Im letzten Vers vermute ich ein Knopfloch, ist das richtig?

LG Daisy

Erich Kykal

Re:Das traurige Mädchen am Fenster
« Antwort #6 am: Januar 08, 2014, 22:49:42 »
Hi, Daisy!

Uuups - ja natürlich, Kopflöcher gehören ins Gesicht! ;D Vielen Dank für den Hinweis!

Vielen Dank für das vollmundige Lob!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.