Autor Thema: Meines Vaters Hand (Fundus)  (Gelesen 1290 mal)

gummibaum

Meines Vaters Hand (Fundus)
« am: September 15, 2013, 17:04:14 »
Vaters Hand schien warm und sicher, was sie berührte, war geheilt. Wenn ich gefallen war, half sie mir auf und das Brennen der Knie verebbte. Wenn mich die Tiefe des Sees anlockte, war seine Hand bei mir, fasste meinen Arm, hielt mich zurück. An seiner Hand verlor der dunkle Keller sein Grauen und die dornigen Blicke der Nachbarskinder stachen nicht mehr. Vaters Hand hob meine kranke Puppe vom Boden auf. Sie füllte neuen Reis in das Loch zwischen ihren Beinen und nähte es vorsichtig zu. Und sie schenkte mir eine kleine Marionette. Ich fand sie so schön mit den strahlenden Augen und dem leichten Seidenkleid, dass ich sie hastig an mich drückte und ihr alle Fäden verwirrte. Nun lag sie stumm da, wie an der Schönheit erstickt. Aber Vater kam zu mir und als er den Schatten auf meinem Gesicht entdeckte, wickelte er ihre Arme und Beine wieder frei und ließ sie vor mir tanzen. Ich war so froh und schwebend leicht, dass ich seine Hand griff und küsste.

Aber schließlich hat Vaters Hand mir die Lebensfäden entblößt und verklebt und zu tausend Knoten festgezurrt, sie hat mich fürs Leben wund gemacht und nicht mehr geheilt. Denn als ich in dem Netz ganz elend fest hing, hat seine Hand sich mir für immer entzogen.
Ich war neun, als Vater gegen die Brücke raste. Die Ärzte sagten uns Herzinfarkt. Aber ich wusste es besser. Ich fühlte das Loch zwischen meinen Beinen. Ich war seine Puppe, die langsam ihren Reis verlor. Aber ich sagte nichts. Ich konnte darüber nicht sprechen.

Aber ich träume noch oft von Vater, dass er aus seinem brennenden Auto aufsteht, die Arme schwingt und auf mich zu läuft. Dass er mir warm in die Augen schaut, seine Hand auf meine Wunde legt und das Leben noch einmal von vorne beginnt. Dass ich die Füße wieder leicht voreinander setzen kann und nicht mehr stolpere, dass mir mein Essen schmeckt und nicht der Mund davon brennt und ich beim Schlucken nie wieder würge. Aber dann ergießt sich weißlicher Schleim über mich und verschlingt meine Träume. Geknebelt schrecke ich hoch, schleudere die Bettdecke von mir, bis ich endlich begreife, dass es nur die Bettdecke ist, die so schwer und erschöpft auf mir gelastet hat.

Und doch war es Vater, der an meinem neunten Geburtstag zu mir kam, als meine Gäste abends gegangen waren. Vater, der stark gewesen war, auf dem ich reiten durfte, der mich durch alle Zimmer trug auf seinen breiten Schultern und der plötzlich keine Kraft mehr hatte, als unsere Familie zerbrochen war. Vater, der damals schwer auf mein Bett sank und einsam in die Ferne blickte. Der nicht mehr viel redete, seit Mutter hier ausgezogen war. Dem ich die Wange streichelte, als er so dalag wie in ein Gejagter, der aufgibt. Der sich mit verzerrtem Gesicht auf mich warf und mich ableckte. Aber ich wischte meine Lippen trocken und nahm seine Hand in meine, wo sie nun zittern durfte, bis Vater seine Ruhe wiederfand. Und als er friedlich eingeschlafen war, küsste ich seine Tränen fort und legte mich in den engen Spalt zwischen Wand und Vaters Rücken.
Ich kann nie vergessen, wie ich mitten in der Nacht erwachte. Ich weiß, dass das Zimmer heiß und die Luft wie gespannt war. Ich hörte, wie Vater seufzend hechelte. Ich zupfte ihn am Ohr, worauf er zu einer festen Mauer erstarrte. Ich sprach ihn an, aber er antwortete nicht. Er war von sich selbst wie gelähmt. Erst viel später, als ich mir Platz verschaffte, wich seine Starre und er drehte sich langsam um. Aber nun legte er sein schweres Bein über mich und zog mich heran, seine Hand drang zu mir und unter mein Hemd, schob meine eigenen Hände beiseite. Dann flatterte sie meine Haut hinab, kam immer mehr in Unruhe, hielt sich noch fest, kniff mir in die Brust, riss sich dann panisch los von der Kette und schwirrte wie ein Brandpfeil heiß und schmerzhaft in mein Fleisch. Ich biss in Vaters schreckliche Hand, ich brüllte verzweifelt, ich floh. Er warf sich vor mich, versperrte die Tür, er flehte, beschwichtigte, bettelte, legte sich weinend zu mir, erzählte ein Märchen. Erzählte mir wie einst, als ich noch klein war, nur jetzt todtraurig. Sprach von der allerfeinsten Prinzessin, die meinen Namen trug und davon, wie der König sie unsterblich liebte und deshalb sterben musste. Was er erzählte, war ein langes Pflaster für meine Wunde, undurchdringlich für meine Fassungslosigkeit und Wut. Er bot vor mir kniend seinen Hals zum Streich, ich wurde unsicher und ohnmächtig still.

Stummer und stumpfer blutete ich Wochen so weiter. Seine Hand wob mir die Zeitlabyrinthe, in denen ich Abende und lange Wochenenden irrte, ohne Ausweg. Und immer gab es dort Märchen, die schillerten. Immer erzählte Vater voll überfließender Liebe und schrumpfte unversehens zu bettelnder Traurigkeit. Und nie wusste ich, wohin er mich brachte und wie ich zurückfinden konnte aus dem tiefdunklen Wald. Wie nur sollte ich Vater loswerden aus meinem Schoß? War er jetzt ganz mein Kind geworden, blieb er so klein und hilflos für immer, so launisch, so lüstern und gierig, durfte er alles mit mir, seiner kindlichen Mutter? War meine Wirklichkeit verdreht, unerklärlich und ausgestoßen von allen andern? Angst und Ekel verstopften meine Poren, ich hatte pelzige Schimmellippen und fühlte mein Inneres auswärts gedreht. Wenn ich mich manchmal im Spiegel anstarrte, entdeckte ich keinen Blick mehr.

Meine einzige Hoffnung war Mutter wiederzutreffen Ja, meine gute, starke Mama! Aber als ich dann bei ihr war, wollte sie nichts mehr von Vater hören. Sie lebte jetzt völlig anders. Sie sagte sehr schlicht und ohne mich näher anzuschauen: „Du kannst dich ruhig auch gegen ihn durchsetzen. Vater ist manchmal schlimmer als ein Kind.“
Mutters Wohnung war hell, keine Möbel, nur Blumen und schöne Instrumente. Als ich ihre alte Geige in der Ecke wiederentdeckte, zeigte sie mir begeistert das neue Schlagzeug. Sie rief, ich müsste es unbedingt ausprobieren. Weil alles daran so glänzte, dachte ich plötzlich an Vaters kleine Prinzessin. Ich versuchte leise trommelnd für ihre Nacktheit ein Kleid zu weben. Aber alles vibrierte viel zu stark, knallte und klingelte. Mutter lachte: „Das macht dich richtig frei!“ So war mein Ausweg also nur das harte Zuschlagen? Tatsächlich, ich steigerte mich darin und merkte, dass Mutter Recht haben könnte. Als ich kurz danach Abschied nahm, sah ich in ihrem Spiegel meine Augen wie aus langer Krankheit aufleuchten.

Ich hatte Mutters Geige zärtlich in der Hand, als ich bei Vater die Zimmertür öffnete. Aber Vater bemerkte mich nicht, er wälzte sich in Fotos von Mädchen, die nackt ihre Beine öffneten. Ich stand hinter ihm, ganz dicht hinter ihm, den Mund auch so offen, aufgerissen von der Demütigung und seinen schweren Fuß auf der Seele. Mein Begreifen versagte, wie hart er mich niedertrat in diesem Moment meiner Hoffnung. Und als ich mich stumm abkehrte, spürte ich den Riss zwischen uns, spürte seine Hand von mir abfallen und doch, sie befreite mich in kein rettendes Land.

Ich drückte meine Geige fest an mich und folgte dem Flur in mein Zimmer. Ich hatte die Augen zu gemacht, aber das letzte Bild wich nicht mehr. Dem Fernseher, der seit Tagen meine Ängste ablenkte, riss ich den Stecker heraus. Ich räumte zerschunden die Süßigkeiten vom Bett weg und zog die Jalousien hinauf, ich öffnete mein Fenster. Da draußen schien die Sonne so hell. Kinder aus meiner Klasse spielten Verstecken, der Bus fuhr trödelnd unten vorbei, fuhr wie in alter Zeit noch zum Schwimmbad. Ich fühlte, dass mir ganz heiß wurde, als ich daran dachte, wie lange ich nicht mehr Schwimmen war. Denn ich hatte längst niemanden mehr, der mitging. Ich war verschrien inzwischen, weil ich Kinder biss und kratzte.

Als ich später allein auf meinem Bett saß und leise die Geige zupfte, kam Vater erwartungsvoll herein. Er setzte sich neben mich, legte mir seinen Arm um die Schulter und flüsterte, ich solle nur weiterspielen. Wenn die Geige wieder im Haus wäre, sei es ja fast wie früher. Es war mir so egal, was er fühlte. Seine Hoffnung reichte nicht mehr zu mir. Auch die sanften Töne meiner Geige blieben mir fremd, ja befremdlich und albern, unredlich und ekelhaft süß, seit Vater neben mir saß. Ich wollte das Instrument wegstellen, nur wagte ich mich nicht in die Stille vor, so lange Vaters Hand bei mir war.
Daher nahm ich den Geigenbogen, der wie wartend neben mir gelegen hatte, fest in meine Hand und rieb damit probeweise über die Saiten. Der kleine hölzerne Körper meiner Geige zuckte zusammen, bäumte sich dann flehend auf, stieß wie gefoltertes Fleisch einen misstönigen Schrei und nochmals ein Bitten um Schonung aus, brach dann in so furchtbarem Schluchzen zusammen, dass Vater entsetzt die Hand von mir nahm. Ich verfolgte nicht, wohin sie sich entfernte, nicht, was Vater tat, nur eines wiederholte ich wie aus innerem Zwang sofort noch einmal. Dasselbe tötende Geräusch, dass mir wie eine Säge erleichternd den harten Bauch aufriss. Und ich hatte das herrlich blutwarme Gefühl, die kleine Geige schrie furchtbar ehrlich für mich und ich dachte in diesem Moment fest an Mutter.

Ich sah voraus, wie Vater sich aufbrausend auf mich stürzte, die Geige wütend wegriss, er war ja vernarrt in goldene Harmonie, aber seltsam, unfasslich, er griff mich nicht an diesmal. Und so quälte ich ihn weiter, schrie allen Schmerz heraus, stieß den Geigenbogen gewaltsam, fiedelte mich egoistisch in Trance, bis sirrend eine Saite der Geige durchriss und unwirkliche Stille eintrat. Nun erst sah ich erschöpft und irgendwie erleichtert zur Seite, endlich wieder hoffend, dass nach dem befreienden Akt alles noch gut werden konnte.

Der Platz, auf dem Vater gesessen hatte, war über alles Verstehen leer. Von draußen hörte ich nur ein Martinshorn, ein Echo meiner Geigenstimme.
Mutter ließ, als alles vorüber war, unsere Wohnung ausräumen und löste den Vertrag. Ich zog zu ihr und bekam mein eigenes Schlagzeug. Ich trommelte laut, ganz laut um mein verengtes Leben. Nur die leisen Töne, nach denen ich mich sehnte, gelangen mir nie mehr. Vaters Hand hatte sie mitgenommen.
« Letzte Änderung: Februar 15, 2017, 20:27:42 von gummibaum »