Autor Thema: Das Schalentier  (Gelesen 1423 mal)

gummibaum

Das Schalentier
« am: Mai 30, 2013, 18:33:16 »
Die Wirbelsäule, vielfach durchgebrochen,
umringt jetzt fragmentiert den Nervenstrang,
der nicht zerriss. Dem jungen Mann gelang
das Wunder, das bewahrt wird schon seit Wochen.

Der Held darf nach Sturz nichts mehr bewegen
in seinem Gipskorsett, eng angepasst.
Er starrt zur Decke auf und hat erfasst,
man wird ihn sechzig Jahre noch so pflegen.

Und wenn er sterben will, es wird nicht gehen.
Der Schutz der Schale hält sein Leben warm.
Er wird umsonst nach dieser Gnade flehen,

denn, was uns reich gemacht, macht uns jetzt arm.
Wir können ruhig jemand leiden sehen:
Moral ist unsre Schale, wehrt der Harm.
« Letzte Änderung: Mai 30, 2013, 18:36:11 von gummibaum »

Erich Kykal

Re:Das Schalentier
« Antwort #1 am: Mai 30, 2013, 19:33:41 »
Hi, Gummibaum!

Ein großes Thema - dass du dich dran versuchst, ist aller Ehren wert. Allerdings scheint mir dieser Versuch hier eher misslungen - zu viele Ecken und Kanten, zu viele Unregelmäßigkeiten und gezwungen wirkende Phrasen.

S2Z1 geht so gar nicht. Da fehlt das "nach dem Sturz" - ohne das stimmt der Rhythmus nicht.

Stellen- und zeilenweise blitzt dein sprachliches Talent durchaus auf, insgesamt aber verfehlt diese Arbeit die erstrebte Wirkung auf mich. Sorry.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re:Das Schalentier
« Antwort #2 am: Mai 30, 2013, 19:48:44 »
Gut, dass du klar sagst, was Sache ist.

LG gummibaum

Erich Kykal

Re:Das Schalentier
« Antwort #3 am: Mai 30, 2013, 20:16:23 »
Hi, Gum!

Nix für ungut, ich versuche immer ehrlich zu sein. Meist verzichte ich bei Gedichten, die mir - aus welchen Gründen auch immer - nicht gefallen, auf einen Kommi, um niemanden unnötig zu brüskieren. Von mir selbst weiß ich ja, wie schwierig es mitunter ist, mit vernichtender Kritik umzugehen, vor allem, wenn einem selber die verrissene Arbeit emotional noch so nahe ist.

Hier ist es ein Grenzfall. Schon wenige geänderte Zeilen würden hier das Gesamtbild wandeln, es weniger konstruiert und gespreizt wirken lassen. aber täte ich das, wieviel bliebe von der originären Arbeit des Autors? Ein Klingenritt, so oder so. Schweigen wollte ich aber auch nicht, weil es ja manche gute Stelle gibt. Außerdem ist die meinige ja nur eine Ansicht von vielen. Wer weiß, was andere sagen!

Ich rate jedenfalls zu einer ausgiebigen Überarbeitung. Bei solchen Themen ist es schwierig, auf dem schmalen Pfad zwischen allzuviel Pathos und allzu wenig Empathie zu bleiben, der eben gelungene Lyrik ausmacht. Die Sprachführung darf nicht zu geschraubt sein, das killt jedes Mitfühlen des Lesers, zuviel Schmalz wiederum stößt ihn auch ab. Wie gesagt: Ein schmaler Grat!

Vielleicht ist es hilfreich, zumindest die Stellen zu bezeichnen, die mich hier gestört haben:

Die Wirbelsäule, vielfach durchgebrochen,
umringt jetzt fragmentiert den Nervenstrang, Mit technisch wirkenden Termini sollte man grade bei getragener Lyrik vorsichtig sein. Hier geht es grade noch.
der nicht zerriss. Dem jungen Mann gelang
das Wunder, das bewahrt wird schon seit Wochen. Dem Reim geschuldet - warum sonst ausgerechnet Wochen? Inhaltlich nicht bündig, und das "Wunder, das bewahrt wird" erscheint gespreizt formuliert.

Der Held darf nach Sturz nichts mehr bewegen "Sturz nichts" - Ein Auffahrunfall an Zischlauten und sperrigen Konsonanten - liest sich wie ein scharfkantiger Drops.
in seinem Gipskorsett, eng angepasst. "Gipskorsett" - auch kein klingendes Wort.
Er starrt zur Decke auf und hat erfasst,
man wird ihn sechzig Jahre noch so pflegen. Die genaue Zahl verwirrt hier eher, wirkt unlyrisch.

Und wenn er sterben will, es wird nicht gehen.
Der Schutz der Schale hält sein Leben warm.
Er wird umsonst nach dieser Gnade flehen,

denn, was uns reich gemacht, macht uns jetzt arm. 2mal "macht" direkt hintereinander klingt nicht gut.
Wir können ruhig jemand leiden sehen: Das "ruhig" muss hier betont 2silbig mit hörbarem "h" gelesen werden, um im Takt zu bleiben.
Moral ist unsre Schale, wehrt der Harm. Da bin ich unsicher, glaube aber, es müsste "dem Harm" heißen, da selbiger nicht weiblich ist. So oder so aber wirkt diese Phrase recht geschraubt.


Natürlich ist es deine Entscheidung, ob du meinen Argumenten beipflichtest. Wie gesagt - meine Meinung ist nur eine von vielen...

Was mich wundert, ist die Bandbreite deiner Arbeit: Von Gedichten nahe oberster Perfektion bis hin zu...na, sagen wir: weniger guten. Keine Ahnung, warum mir das eine so toll erscheint (zB "Moribund") und das andere so gar nicht!

LG, eKy
« Letzte Änderung: Mai 30, 2013, 20:18:39 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re:Das Schalentier
« Antwort #4 am: Mai 31, 2013, 14:56:17 »
ich habe es umgeschrieben, Erich. Dabei den anspruchsvollen Rahmen des Sonetts erst einmal beiseite getan. Ganz rund ist wohl noch nicht. LG

Schalentier

Man legte ihn so nicht ins Bett,
umschloss erschüttrungsfrei
Geborgnes in ein Gipskorsett,
die Wirbel waren Brei.

Der Unfall ließ den Nerverstrang
durch Wunder heile hier,
doch Heilung wählte müden Gang,
er blieb ein Schalentier.

Und äußerte mit Sehnsuchtsblick:
"Ich möcht ins Dunkle gehn,
es ließ ein böses Missgeschick
mich an der Grenze stehn."

Doch niemand reichte ihm die Hand,
man war doch durch Moral
in Gegnerschaft zu diesem Land,
ließ fromm ihn in der Qual.

cyparis

Re:Das Schalentier
« Antwort #5 am: Juni 01, 2013, 12:47:55 »
Beide Varianten sind gut, sehr erschütternd.
Es geht wohl um eine Paraplegie.
Ob der Held ein Rennfahrer oder Reiter o.ä. war, spielt keine Rolle.

Die erste Fassung finde ich ausgereifter, obwohl ich Erich in ein paar Punkten (nicht allen!) beipflichte.


Die Wirbelsäule, vielfach durchgebrochen,/Die Wirbelsäule, splitternd und zerbrochen,*
umringt jetzt fragmentiert den Nervenstrang,
der nicht zerriss. Dem jungen Mann gelang
das Wunder, das bewahrt wird schon seit Wochen./das bewahrt wird . Pulse pochen.

Der Held darf nach Sturz nichts mehr bewegen/ Dem Helden bleibt  - gestürzt - kein Regen.
in seinem Gipskorsett, eng angepasst.
Er starrt zur Decke auf und hat erfasst,/Er starrt zur Decke auf und hat erfasst:
man wird ihn sechzig Jahre noch so pflegen./Man wird ihn jahrelang so pflegen

Und wenn er sterben will, es wird nicht gehen.
Der Schutz der Schale hält sein Leben warm.
Er wird umsonst nach dieser Gnade flehen,

denn, was uns reich gemacht, macht uns jetzt arm.
Wir können ruhig jemand leiden sehen:/Wir dürfen unbeschwert das Leiden sehen.
Moral ist unsre Schale, wehrt der Harm./kein "Gotterbarm"*


*alles nur meine eigenen Überlegungen.

Das Gedicht ist erschütternd.
Ich hoffe, daß der Hilfe zum Suizid endlich auch hier der Weg freigemacht wird.

Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

gummibaum

Re:Das Schalentier
« Antwort #6 am: Juni 02, 2013, 15:41:48 »
geändert:


Das Schalentier

Die Wirbelsäule, vielfach durchgebrochen,
umringt jetzt fragmentiert den Nervenstrang,
der unverletzt blieb. Seltnem Glück gelang
zu retten, was der Sturz dem Tod versprochen.

Der junge Held darf sich nun nicht mehr regen
in seiner Gipsbett, eng ihm angepasst.
Er starrt zur Decke auf und hat erfasst,
man wird ihn immerfort so weiter pflegen.

Und wenn er sterben will, es wird nicht gehen.
Der Schutz der Schale birgt des Lebens Rest.
Er wird umsonst nach dieser Gnade flehen,

denn, was uns reich gemacht, das hält uns fest.
Wir dürfen unbeschwert das Leiden sehen,
gewappnet durch Moral, die nicht entlässt.