Autor Thema: Immer wieder: Wir  (Gelesen 1035 mal)

Erich Kykal

Immer wieder: Wir
« am: April 20, 2013, 10:44:52 »
Wir bauen himmelhoch in unsern Träumen,
was an der Schwere dieser Welt zerbricht.
Dies lehrt uns weder Umkehr noch Verzicht,
wir brechen ständig auf zu neuen Räumen.

Doch selten nur zeigt uns ein gutes Licht,
was wir dabei an Lebenszeit versäumen.
Geblendet vom Versuch sehn wir vor Bäumen
den Wald der Wirklichkeit vor Augen nicht.

So schwimmen wir in Wünschen und Querelen,
von je unkundig, wo der Himmel wohnt.
Wir machen Licht in unsern dunklen Seelen

und können nur im Kreise dieses Glühens
ein Leben führen, das die Narben lohnt:
Ein Sein des Werdens und des sich Bemühens.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Daisy

Re:Immer wieder: Wir
« Antwort #1 am: April 20, 2013, 15:28:55 »
Hallo Erich,

dein scheinbar unerschöpfliches Gedankengut bringt immer wieder Großartiges hervor!

Mir ist oft, als ob ich mich erst durch die Tiefe deiner einzigartigen Texte selber entdecken und kennenlernen würde.

Ich ziehe meinen Hut vor dieser beeindruckenden Leistung.

LG Daisy

Erich Kykal

Re:Immer wieder: Wir
« Antwort #2 am: April 20, 2013, 20:42:05 »
Hi, Daisy!

Danke für die Blumen, aber unerschöpflich ist meine Gedankenwelt beileibe nicht: Viele meiner Werke drehen sich um wenige immer gleiche Themen oder deren Abwandlungen/Verwandtschaften. Oft glüht in mir der Drang nach einem Gedicht auf - und ich finde schlicht keine Thematik, die mich emotional oder gedanklich ausreichend reizt.
Großartig ist auch etwas anderes: Ich mag sprachlich versiert bereits hundertmal Erdachtes neu verbrämen - aber neue, geistig frische Lösungen biete ich auch nicht an. Gemeinplätze, drapiert zu tiefsinniger Weisheit in edler Worthülse schmackhaft gemacht...das ist es, was ich kann.

Dieses Sonett hier allerdings gefällt mir selbst recht gut - es ist wohlausgewogen, sprachlich nicht überstrapaziert und die Melodie verläuft weitgehend obstruktionsfrei. Dennoch verlässt mich nie der Eindruck, den Gedichten eines Rilke trotz allen Bemühens immerzu vergeblich nachzueifern. Das tut nicht wirklich weh - ich halte mich nicht für ausreichend begabt, es jemandem wie ihm gleichzutun. Andererseits beschämt mich dann soviel des Lobes von Lesern, weil ich mit mir selbst und meiner Kunst kaum je wirklich zufrieden bin. Ich WEISS, es geht noch besser - aber ich erreiche dieses Level einfach nicht! So zumindest mein nachhaltiger Eindruck. Deshalb beschleicht mich stets eine Art schlechtes Gewissen, wenn andere so begeistert von meinem Schaffen sind - obwohl ich es durchaus genieße, gelobt zu werden!
Ein wenig shizo, was!? ::) ;D

Seufzende Grüße, eKy
« Letzte Änderung: Januar 29, 2022, 10:25:22 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Erich Kykal

Re: Immer wieder: Wir
« Antwort #3 am: Januar 29, 2022, 10:31:41 »
Hi!

Ich habe ja neulich das Konzept eines erlaubten Doppelposts zur Liftung besonders gelungener eigener alter Werke angedacht, die damals vielleicht nicht das ausreichend verdiente Echo fanden, oder überhaupt keines.

So wären sie im Archiv quasi verloren. Auf Missbrauch wäre natürlich zu achten, aber das kann ich mir bei unserer sehr übersichtlichen Gemeinschaft kaum vorstellen.

Hier versuche ich dies nun erst mal ohne "offiziellen" Sanktus - mal sehen, wie es aufgenommen wird. Dieses alte Werk bekam damals nur einen einzigen Kommi, und ich halte es für eins meiner sehr gelungenen. Vielleicht freut man sich, dass ich es so nochmals präsentiere. Vielleicht werde ich geschlachtet. Mal sehen ...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Immer wieder: Wir
« Antwort #4 am: Januar 29, 2022, 18:00:39 »
Lieber Erich,

man könnte den Menschen geradezu durch diese Orientierung an überhöhten Zielen definieren. Was nicht wehtut, ist auch nichts wert, sagt uns die Moral. 

Sehr schön in Worte gefasst.

Chapeau von gummibaum 

Sufnus

Re: Immer wieder: Wir
« Antwort #5 am: Januar 29, 2022, 18:10:12 »
Hi eKy!

Gut hast Du daran getan, dieses schöne, wohlgebaute Sonett zu liften!

Dass im Entstehungszeitraum nicht mehr Lob kam, mag auch daran gelegen haben, dass Du in Deiner Antwort auf Daisys Kommentar Lob-Impulse durch tätige Selbstkritik womöglich etwas erstickt hast. Wobei es natürlich Schlimmeres für einen Dichter geben kann, als nicht ganz das Rilke-Niveau ;) zu erreichen (immerhin kommst Du aber doch immer wieder mal auf Spuckreichweite an Oldrainermaria ran :) )...

Hervorheben (und zwar positivst rühmend und preisend!) möchte ich übrigens die Metrik von Z. 10. Man kann diese Zeile, wenn man das will, natürlich mit der metrischen Planierwalze jambisch durchtatammen, aber eigentlich wird "unkundig" in natürlicher Rede ja eher Xxx oder sogar X(X)x betont, nicht aber xXx wie es für einen völlig marschmäßigen Jambus nötig wäre. Das X(X)x hab ich dabei gerade erfunden, weiß nicht, ob es so eine Notation gibt: Ich will damit andeuten, dass die zweite Silbe in diesem Wort schwächer als die erste, aber stärker als die dritte betont wird, eine Art "mittelstarke" Akzentuierung.

Wie dem auch sei - wie würde man das jetzt als Gedicht lesen? Wie schon gesagt, man kann es natürlich knallhart jambisch durchziehen und etwas gegen die natürliche Betonung bürsten. Aber ein wirklich schöner Effekt stellt sich für mich dann ein, wenn man hier eine Art verschliffenen Spondeus (UN-KUN-dig, XXx) liest mit einer schwebenden Betonung, die irgendwo so zwischen dem UN und dem KUN hin- und hergeistert. Dazu muss man nach dem UN eine ganz kleine, kaum merkliche, Pause einlegen. Das ist ein Effekt bei Vortrag, der das verschnarchte Publikum mal ein bisschen wachrüttelt und einen richtig tollen Drive erzeugt. Rilke hat so Dinger gerne in seinen Versen eingebaut... womit sich der Kreis doch sehr schön schließt, wie ich finde.

Also! Meine Reverenz! :)

S.

Erich Kykal

Re: Immer wieder: Wir
« Antwort #6 am: Januar 30, 2022, 12:41:56 »
Hi Suf!

Vielen lieben Dank für die sprachkundige Laudatio!

Du erläuterst hier exakt die Überlegungen, die ich mir damals ob des leicht "metrisch wankenden" "unkundig" gemacht habe: Die leichte "Delle" im Takt fiel mir auf, aber ich fand insgesamt ihre Wirkung als zu belebend, um die Stelle umzuschreiben. die "verwaschene Betonung", die du erwähnst, war glaube ich damals sogar mein Argument, die Stelle vor Kritikern zu rechtfertigen: eine eigentlich unbetonte Silbe derart quasizubetonen, dass es den eigentlichen Rhythmus nicht wirklich stört, dem Ganzen aber einen leichten Kick gibt - und ich wollte auf das schöne und selten verwendete Wort selbst nicht verzichten.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
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