Der Rabe (von E.A.Poe - eine Nachdichtung - eingestellt für Jana)
Mitternacht war längst vorüber, als ich müde grübelnd über
Einem Buch studierend saß und längst vergess‘ne Lehren las –
Schläfrig wurde mir im Kopfe, plötzlich dachte ich es klopfe,
Als ob jemand leise pochte, pochte an des Hauses Tor.
'Ein Besucher', sprach ich murmelnd, 'ein Besucher vor dem Tor?'
Etwas seltsam kam‘s mir vor.
O, ich kann mich klar entsinnen an den trostlos, öden Winter.
Jede Glut wob im Verglimmen ihren Geist im Boden ein.
Sehnlich wartend auf den Morgen, suchte Linderung von Sorgen
Ich durch lesen zu erborgen, von den Sorgen um Lenor –
Dieses reine, holde Mädchen nennen Engel nun Lenor –
Engel, den ich hier verlor.
Und das seidensachte Schwanken meines Purpurvorhangs plagte,
Jagte rasend mich mit Ängsten, Ängsten nie gekannt zuvor.
Ich erhob mich, um mein schlagend Herz zu stillen, nochmals sagend:
'Einlass fordert ein Besucher, spät noch, vor des Hauses Tor –
Was erklärte sonst das Pochen, spät noch, vor des Hauses Tor?
Ein Besucher steht davor!'
Meine Seelenkräfte wuchsen. Und ich konnte eilig rufen:
'Dame oder Herr, ich bitte herzlich um Entschuldigung.
Ihr habt schlafend mich getroffen und so leise war das Pochen,
Ein verschwindend leises Pochen hörte ich an meinem Tor,
Schwach nur, aus der Ferne klingend.' – und ich öffnete das Tor.
Dunkle Leere fand ich vor.
Lange in das Dunkel starrend, stand ich bange, fragend harrend,
Träumte Träume, die zu träumen keiner je gewagt zuvor.
Doch die Stille wollt' nicht weichen. Nirgends gab die Nacht ein Zeichen.
Nur ein Wort durchbrach das Schweigen, flüsternd klang das Wort 'Lenor?'
Antwort, leiser als zuvor, gab mein Echo mir 'Lenor?'
Stille war es, wie zuvor.
Meine wunde Seele brannte, als ich mich zur Kammer wandte.
Da vernahm ich das bekannte Pochen lauter als zuvor.
Sicher glaubt' ich zu erraten, kommt es von dem Fensterladen:
'Lass mich das Geheimnis sehen, dass mir seltsam täuscht das Ohr.
Rasend Herz, hör auf zu jagen, ein Geräusch nur täuscht das Ohr,
Schreckt dich schon der Wind, du Tor?'
Und ich öffnete den Laden. Flatternd und mit Flügelschlagen
Kam ein stattlich großer Rabe aus der Dunkelheit hervor.
Ohne Gruß und ohne Stocken sprang er, um sich hinzuhocken,
Auf die Büste an der Tür, schwang zur Büste sich empor.
Gravitätisch flügelschlagend schwang der Rabe sich empor.
Saß – und still war’s wie zuvor.
Und der schwarze Vogel machte, dass ich für mich selber lachte,
Sein gewichtiges Gebaren löste meiner Trauer Flor.
'Euer Helmbusch ist geschoren, dennoch scheint ihr hochgeboren.
Welch' plutonisch fernes Ufer, sagt mir, brachte Euch hervor?
Sagt mir eurer Lordschaft Namen, die sich in der Nacht verlor?'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.
Staunend hörte ich ihn sprechen, eines Rabens Radebrechen.
Ohne Sinn sind ihm die Worte, doch er bringt sie klar hervor.
Sicher werden Sie gestehen, sprechend, einen schwarzen Raben
Stehn auf weißer Pallas-Büste, das sah nie ein Mensch zuvor,
Solch ein Biest, solch einen Raben, das sah nie ein Mensch zuvor,
Mit dem Namen 'Nevermore'.
Doch der Rabe sprach alleine dieses Wörtchen, nur das eine,
Ganz als wäre seine Seele mit dem Worte ausgehaucht.
Keine Silbe von sich gebend, keine Feder mehr bewegend,
Saß er nun, bis ich gemurmelt: 'Andre Freunde floh’n zuvor,
Und auch ihn werd‘ ich verlieren, wie die Hoffnung ich verlor.'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.
Als die Stille nun gebrochen, als so passend er gesprochen,
Sprach ich: 'Dieses Wort alleine – zweifellos sein ganzer Schatz –
Hat er dort wohl aufgelesen, wo sein Herr verfolgt gewesen
Von des Schicksals bösen Mächten. Als die Hoffnung er verlor
Und als Ausdruck der Verzweiflung dieses dunkle Wort erkor.
Dieses 'Never-nevermore''.
Mit verführerischer Fessel band der Rabe meine Seele.
Sachte rückte ich den Sessel Richtung Türe weiter vor,
Sank in samtne Kissen nieder, der Gedankenketten Glieder
Gaukelten mir immer wieder düst're Rabenbilder vor,
Bis mein Geist in dunkeln Kreisen bei der Frage sich verlor,
Was er meint, mit 'Nevermore'?
Brütend saß ich da und schweigend, nicht die kleinste Regung zeigend,
Als des Vogel Feuerauge tief sich in mein Herz gebohrt.
Suchend nach dem tiefsten Wissen, lehnte ich den Kopf ins Kissen,
In des Sessels samtnes Kissen, dessen purpurnes Dekor
Strahlte in der Lampe Schimmer. – Bei dem purpurnen Dekor
Sitzt sie nie mehr wie zuvor.
Dichter war die Luft und dichter. Lichter schienen und entschwanden,
wie wenn Weihrauchfässer schwingend, niedersinkt ein Engelchor.
'Kerl', rief ich, 'ob Gott ob Engel dich zu mir herniedersandte,
Gib mir Ruhe, gib Befreiung vom Gedenken an Lenor!
Gib die Droge des Vergessens für die Trauer um Lenor!'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.
'Ein Prophet bist du ohn' Zweifel, Vogel bist du und ein Teufel.
Ob dich der Versucher sandte, ob der Sturm dich trug hervor,
In Verlassenheit zu stranden – meiner Seele Wüstenlanden –
Wo nur Schreckgespenster hausen, gieße Balsam mir ins Ohr!
Sag mir, gibt es Trost auf Erden? Trost für die, die ich verlor?'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.
'Ein Prophet bist du ohn' Zweifel, Vogel bist du und ein Teufel.
Sage, ob in Himmels Weiten an des Paradieses Tor –
Bei dem Gott, zu dem wir beten! – sage, ob ich einst in Eden
Wiederfinde dieses Wesen, dessen Name ist Lenor?
Jemals finde dieses Wesen, dessen Name ist Lenor?'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.
'Unhold geh, wir sind geschieden!' rief ich, 'Lasse mich in Frieden!
An plutonisch fernem Ort verglimme, wie ein Meteor!
Keine Feder lass hier liegen, geh mit deinen schwarzen Lügen!
Geh, verlass die Pallas-Büste, nimm den Schatten mir vom Tor!
Nimm den Schnabel aus dem Herzen, lass mein Herz mir wie zuvor!'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.
Und der Rabe sitzt noch immer, ohne Regung, sitzt noch immer
Auf der Büste in dem Zimmer, die als Thron er sich erkor.
Um die Augen glüht im Dunkeln ein dämonenhaftes Funkeln.
Aus dem Boden rings im Zimmer tritt sein Schattenbild hervor.
Meine Seele hebt sich nimmer aus dem Rabenschwarz empor,
Hebt sich nimmermehr empor.
Bemerkungen zu dieser Übersetzung.
Das Gedicht „The Raven“ von E.A.Poe ist schon sehr häufig übersetzt worden. Allein bei Wikisource findet man 14 Übertragungen ins Deutsche. Was kann es also rechtfertigen, das Gedicht nochmals zu übertragen? Was ist das Besondere an meiner Übertragung ins Deutsche?
Ich habe den Refrain des Gedichtes, der lediglich aus dem Wort „nevermore“ besteht, in der Originalsprache bestehen lassen und nicht mit dem entsprechenden deutschen Wort „nimmermehr“ übersetzt. Ich kenne keine andere Übersetzung, die das getan hat und habe gute Gründe für diese außergewöhnliche Vorgehensweise?
Poe beschreibt in dem kurzen Aufsatz „Philosophy of Composition“ Schritt für Schritt, wie er „The Raven“ konzipiert hat, wobei von ihm die Bedeutung des Klanges von „nevermore“ mit dem Langen O, gefolgt von einem R, als Voraussetzung für die Wirkung des Gedichts beschrieben wird. Diese Wirkung wird durch das E des Deutschen „nimmermehr“ nicht erreicht, außerdem gibt es keinen Mädchennamen, der (entsprechend zu „Nevermore – Lenor“) im deutschen zu „nimmermehr“ gewählt werden könnte.
Einige wenige Übersetzungen versuchen deutsche Worte mit langem O ans Ende jeder Strophe zu setzten, um den Klang von „nevermore“ zu erzeugen, was jedoch dazu führt, dass ein zweites wesentliches Kompositionsprinzip, welches Poe in dem erwähnten Aufsatz beschreibt, nicht erfüllt ist. Poe erachtet es für die Wirkung des Gedichts als ganz wesentlich, dass das immer gleiche Refrain-Wort in jeder Strophe aus einer neuen Perspektive erscheint, weswegen es einerseits ein sprachbegabtes Wesen ohne menschliche Intelligenz (der Rabe) ausspricht, andererseits jedoch von einem verständigen Wesen (dem trauernden Menschen) interpretiert wird. Reproduziert die Übertragung ins Deutsche den Klang des O, muss sie zwangsläufig im deutschen auf das Refrain-Wort „nimmermehr“ verzichten, und wird diesem zweiten wesentlichen Kompositionsprinzip nicht gerecht.
Ich sehe keinen anderen Ausweg aus dieser Zwickmühle, als einfach das englische Wort „nevermore“ zu lassen, und darauf zu vertrauen, dass dieses in einer Zeit, in der Anglizismen sehr gebräuchlich sind, den Leser nicht abstößt oder stört.
Mein Argument könnte dadurch entkräftet werden, dass Poes Behauptung über die grundlegende Bedeutung des Tones für die Wirkung des Gedichtes falsch ist – dem, was er über den Refrain sagt, wir kaum Widerspruch finden. Obwohl ich gewisse Zweifel hege, ob Poe in seiner Beschreibung der Entstehung des Gedichts tatsächlich in jedem Punkt wirklich so rational konstruierend vorgegangen ist, wie er es in „Philosphy of Composition“ beschreibt, so bin ich mir doch ziemlich sicher, dass er bezüglich der Bedeutung des Klanges von „nevermore“ Recht hat, weil dieses auch von anderen Dichtern in gleicher Weise beschreiben wird. Friedrich Schiller sagt z.B. in einem Brief vom 22.5.1792 an Körner: „Das Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich oft kaum mit mir einig bin.“ und an Goethe in einem Brief vom 18.3.1796: „Bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten Gegenstand, dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Grundstimmung geht vorher und auf diese folgt erst die poetische Idee.“ Das stimmt genau mit dem überein, was Poe sagt.
Zusätzlich möchte ich noch anfügen, dass ich mir große Mühe gegeben habe, die Entwicklung der poetischen Bilder möglichst genau zu übertragen. Man kann die Qualität einer Übertragung recht gut ermessen, wenn man nur die zweite Zeile der zweiten Strophe (And each separate dying ember wrought its ghost upon the floor.) mit den Schlusszeilen des Gedichts (And the lamp-light o'er him streaming throws his shadow on the floor; / And my soul from out that shadow that lies floating on the floor / Shall be lifted - nevermore!) vergleicht, denn die Entwicklung des wesentlichen Schlussbildes beginnt bereits in dieser Zeile der zweiten Strophe.