Autor Thema: Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte  (Gelesen 29105 mal)

cyparis

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #60 am: September 09, 2014, 20:06:50 »
O ja -

wie gut, daß es dem Vergessen hier entrissen wurde!
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Seeräuber-Jenny

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #61 am: September 09, 2014, 20:22:34 »
Ja. Die ersten drei Strophen sind brandaktuell, finde ich.

Lieben Gruß
Jenny
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

Erich Kykal

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #62 am: September 10, 2014, 18:30:24 »
Rainer Maria Rilke

Fünf Gedichte, die mich jedesmal zum Weinen bringen, wenn ich sie lese... (Extra solche, die nicht ohnehin jeder kennt, wenn er an Rilke denkt...)


DER BLINDE KNABE

An allen Türen blieb der blinde Knabe,
auf den der Mutter bleiche Schönheit schien,
und sang das Lied, das ihm sein Leid verliehn:
"Oh hab mich lieb, weil ich den Himmel habe."
Und alle weinten über ihn.

An allen Türen blieb der blinde Knabe.

Die Mutter aber zog ihn leise mit;
weil sie die andern alle weinen schaute.
Er aber, der nicht wusste, wie sie litt,
und nur noch tiefer seinem Dunkel traute,
sang: "Alles Leben ist in meiner Laute."

Die Mutter aber zog ihn leise mit.

So trug er seine Lieder durch das Land.
Und als ein Greis ihn fragte, was sie deuten,
da schwieg er, und auf seiner Stirne stand:
Es sind die Funken, die die Stürme streuten,
doch einmal werd ich breit sein wie ein Brand.

So trug er seine Lieder durch das Land.

Und allen Kindern kam ein Traurigsein.
Sie mussten immer an den Blinden denken
und wollten etwas seiner Armut weihn;
er nahm sie lächelnd an den Handgelenken
und sang: "Ich selbst bin kommen euch beschenken."

Und allen Kindern kam ein Traurigsein.

Und alle Mädchen wurden blass und bang.
Und waren wie die Mutter dieses Knaben,
der immer noch in ihren Nächten sang.
Und fürchteten: wir werden Kinder haben, -
und alle Mütter waren krank . .

Da wurden ihre Wünsche wie ein Wort
und flatterten wie Schwalben um die Eine,
die mit dem Blinden zog von Ort zu Ort:
"Maria, du Reine,
sieh, wie ich weine.
Und es ist seine
Schuld. In die Haine
führe ihn fort!"

Bei allen Bäumen blieb der blinde Knabe,
auf den der Mutter müde Schönheit schien,
und sang das Lied, das ihm sein Leid verliehn:
"Oh hab mich lieb, weil ich den Himmel habe -"
Und alle blühten über ihm.


DER SCHAUENDE

Ich sehe den Bäumen die Stürme an,
die aus laugewordenen Tagen
an meine ängstlichen Fenster schlagen,
und höre die Fernen Dinge sagen,
die ich nicht ohne Freund ertragen,
nicht ohne Schwester lieben kann.

Da geht der Sturm, ein Umgestalter,
geht durch den Wald und durch die Zeit,
und alles ist wie ohne Alter:
die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,
ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit und ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen, -
wir würden weit und namenlos.

Was wir besiegen, ist das Kleine,
und der Erfolg selbst macht uns klein.
Das Ewige und Ungemeine
will nicht von uns gebogen sein.
Das ist der Engel, der den Ringern
des Alten Testaments erschien:
wenn seiner Widersacher Sehnen
im Kampfe sich metallen dehnen,
fühlt er sie unter seinen Fingern
wie Saiten tiefer Melodien.

Wen dieser Engel überwand,
welcher so oft auf Kampf verzichtet,
der geht gerecht und aufgerichtet
und groß aus jener harten Hand,
die sich, wie formend, an ihn schmiegte.
Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.


DER APFELGARTEN

Komm gleich nach dem Sonnenuntergange,
sieh das Abendgrün des Rasengrunds;
ist es nicht, als hätten wir es lange
angesammelt und erspart in uns,

um es jetzt aus Fühlen und Erinnern,
neuer Hoffnung, halbvergeßnem Freun,
noch vermischt mit Dunkel aus dem Innern,
in Gedanken vor uns hinzustreun

unter Bäume wie von Dürer, die
das Gewicht von hundert Arbeitstagen
in den überfüllten Früchten tragen,
dienend, voll Geduld, versuchend, wie

das, was alle Maße übersteigt,
noch zu heben ist und hinzugeben,
wenn man willig, durch ein ganzes Leben
nur das Eine will und wächst und schweigt.


DER FREMDE

Ohne Sorgfalt, was die Nächsten dächten,
die er müde nichtmehr fragen hieß,
ging er wieder fort, verlor, verließ - .
Denn er hing an solchen Reisenächten
anders als an jeder Liebesnacht.
Wunderbare hatte er durchwacht,
die mit starken Sternen überzogen
enge Fernen auseinanderbogen
und sich wandelten wie eine Schlacht;

andre, die mit in den Mond gestreuten
Dörfern, wie mit hingehaltnen Beuten;
sich ergaben, oder durch geschonte
Parke graue Edelsitze zeigten,
die er gerne in dem hingeneigten
Haupte einen Augenblick bewohnte,
tiefer wissend, dass man nirgends bleibt;
und schon sah er bei dem nächsten Biegen
wieder Wege, Brücken, Länder liegen
bis an Städte, die man übertreibt.

Und dies alles immer unbegehrend
hinzulassen, schien ihm mehr als seines
Lebens Lust, Besitz und Ruhm.
Doch auf fremden Plätzen war ihm eines
täglich ausgetretnen Brunnensteines
Mulde manchmal wie ein Eigentum.


RÖMISCHE FONTÄNE

Zwei Becken, eins das andre übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,

dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;

sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis

sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.
« Letzte Änderung: September 11, 2014, 17:55:51 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Seeräuber-Jenny

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #63 am: September 11, 2014, 10:52:12 »


Mihai Eminescu

Sonette I

Draußen ist Herbst; verstreuten Laubes Schaum.
Der Wind wirft Tropfen gegens Fenster schwer.
Aus alter Post in brüchigem Couvert –
was steigt da auf in einer Stunde kaum!

So gibst du süßen Nichtigkeiten Raum;
an deiner Türe klopfe nirgendwer ...
Doch schöner noch, bei Schnee und Eis umher,
am Feuer sitzen, übermannt vom Traum.

Vom Traum, der mir in die Gedanken greift:
Die Fee des Märchens, Dochia, steigt hernieder,
indes ein dichter Nebel mich umschweift.

Das Rauschen eines Kleides hör ich wieder,
gelinden Schritt, der kaum die Diele streift;
und dünne Hände decken meine Lider.

(nach Geraldine Gabor)  
« Letzte Änderung: September 11, 2014, 11:48:16 von Seeräuber-Jenny »
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

Erich Kykal

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #64 am: September 11, 2014, 17:54:19 »
Rainer Maria Rilke

Nochmal fünf Gedichte, zum Weinen schön! (Ich schreibe hier extra jene, die nicht ohnehin jeder kennt!)


SONETT XXIX (aus dem 2. Teil der Sonette an Orpheus)

Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atmen noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
laß dich läuten. Das, was an dir zehrt,

wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidenste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.


DER BALL

Du Runder, der das Warme aus zwei Händen
im Fliegen, oben, fortgibt, sorglos wie
sein eigenes; was in den Gegenständen
nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie,

zu wenig Ding und doch noch Ding genug,
um nicht aus allem draußen Aufgereihten
unsichtbar plötzlich in uns einzugleiten:
das glitt in dich, du zwischen Fall und Flug

noch Unentschlossener: der, wenn er steigt,
als hätte er ihn mit hinaufgehoben,
den Wurf entführt und freiläßt - , und sich neigt
und einhält und den Spielenden von oben
auf einmal eine neue Stelle zeigt,
sie ordnend wie zu einer Tanzfigur,

um dann, erwartet und erwünscht von allen,
rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur,
dem Becher hoher Hände zuzufallen.


DIE GAZELLE (Gazella Dorcas)

Verzauberte: Wie kann der Einklang zweier
erwählter Worte je den Reim erreichen,
der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen.
Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier,

und alles Deine geht schon im Vergleich
durch Liebeslieder, deren Worte, weich
wie Rosenblätter, dem, der nicht mehr liest,
sich auf die Augen legen, die er schließt:

um dich zu sehen: hingetragen, als
wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen
und schösse nur nicht ab, solang der Hals

das Haupt ins Horchen hält: wie wenn beim Baden
im Wald die Badende sich unterbricht:
den Waldsee im gewendeten Gesicht.


DER SCHWAN

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn,
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen - :

in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehn, Flut um Flut;
während er unendlich still und heiter
immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht.


AUS DEM STUNDENBUCH (Von der Armut und vom Tode)

Denn sieh: sie werden leben und sich mehren
und nicht bezwungen werden von der Zeit,
und werden wachsen wie des Waldes Beeren,
den Boden bergend unter Süßigkeit.

Denn selig sind, die niemals sich entfernten
und still im Regen standen ohne Dach:
zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.

Sie werden dauern über jedes Ende
und über Reiche, deren Sinn verrinnt,
und werden sich wie ausgeruhte Hände
erheben, wenn die Hände aller Stände
und aller Völker müde sind.
« Letzte Änderung: September 11, 2014, 17:56:22 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #65 am: September 11, 2014, 18:16:39 »
Auch wenn es  allen bekannt ist:




Archaischer Torso Apollos



Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
     
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
 
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
     
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.



(Rainer Maria Rilke)
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #66 am: September 12, 2014, 18:20:58 »
Rainer Maria Rilke

Ein paar mehr teils selten genannte Kostbarkeiten:


DIE HEILIGE

Das Volk war durstig; also ging das eine
durstlose Mädchen, ging die Steine
um Wasser anflehn für ein ganzes Volk.
Doch ohne Zeichen blieb der Zweig der Weide,
und sie ermattete am langen Gehn
und dachte endlich nur, dass einer leide,
(ein kranker Knabe, und sie hatten beide
sich einmal abends ahnend angesehn).
Da neigte sich die junge Weidenrute
in ihren Händen dürstend wie ein Tier:
jetzt ging sie blühend über ihrem Blute,
und rauschend ging ihr Blut tief unter ihr.


EINSAMKEIT

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig voneinander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen . . .


WELCHE WIESEN . .

Welche Wiesen duften deine Hände?
Fühlst du wie auf deine Widerstände
stärker sich der Duft von draußen stützt.
Drüber stehn die Sterne schon in Bildern.
Gib mir, Liebe, deinen Mund zu mildern;
ach, dein ganzes Haar ist unbenützt.

Sieh, ich will dich mit dir selbst umgeben
und die welkende Erwartung heben
von dem Rande deiner Augenbraun;
wie mit lauter Liderinnenseiten
will ich dir mit meinen Zärtlichkeiten
alle Stellen schließen, welche schaun.


DER TOD DER GELIEBTEN

Er wusste nur vom Tod was alle wissen:
dass er uns nimmt und in das Stumme stößt.
Als aber sie, nicht von ihm fortgerissen,
nein, leis aus seinen Augen ausgelöst,

hinüberglitt zu unbekannten Schatten,
und als er fühlte, dass sie drüben nun
wie einen Mond ihr Mädchenlächeln hatten
und ihre Weise wohlzutun:

da wurden ihm die Toten so bekannt,
als wäre er durch sie mit einem jeden
ganz nah verwandt; er ließ die andern reden

und glaubte nicht und nannte jenes Land
das gutgelegene, das immersüße -
und tastete es ab für ihre Füße.


DER BLINDE (Paris)

Sieh, er geht und unterbricht die Stadt,
die nicht ist auf seiner dunkeln Stelle,
wie ein dunkler Sprung durch eine helle
Tasse geht. Und wie auf einem Blatt

ist auf ihm der Widerschein der Dinge
aufgemalt; er nimmt ihn nicht hinein.
Nur sein Fühlen rührt sich, so als finge
es die Welt in kleinen Wellen ein:

eine Stille, einen Widerstand - ,
und dann scheint er wartend wen zu wählen:
hingegeben hebt er seine Hand,
festlich fast, wie um sich zu vermählen.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Erich Kykal

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #67 am: September 13, 2014, 12:48:24 »
Rainer Maria Rilke


EINE WELKE

Leicht, wie nach ihrem Tode
trägt sie die Handschuh, das Tuch.
Ein Duft aus ihrer Kommode
verdrängte den lieben Geruch,

an dem sie sich früher erkannte.
Jetzt fragte sie lange nicht, wer
sie sei (: eine ferne Verwandte),
und geht in Gedanken umher

und sorgt für ein ängstliches Zimmer,
das sie ordnet und schont,
weil es vielleicht noch immer
dasselbe Mädchen bewohnt.


DER BALKON

Von der Enge, oben, des Balkones
angeordnet wie von einem Maler
und gebunden wie zu einem Strauß
alternder Gesichter und ovaler,
klar im Abend, sehn sie idealer,
rührender und wie für immer aus.

Dieses aneinander angelehnten
Schwestern, die, als ob sie sich von weit
ohne Aussicht nacheinander sehnten,
lehnen, Einsamkeit an Einsamkeit;

und der Bruder mit dem feierlichen
Schweigen, zugeschlossen, voll Geschick,
doch von einem sanften Augenblick
mit der Mutter unbemerkt verglichen;

und dazwischen, abgelebt und länglich,
längst mit keinem mehr verwandt,
einer Greisin Maske, unzugänglich,
wie im Fallen von der einen Hand
aufgehalten, während eine zweite
welkere, als ob sie weitergleite,
unten von den Kleidern hängt zur Seite

von dem Kinderangesicht,
das das Letzte ist, versucht, verblichen,
von den Stäben wieder durchgestrichen
wie noch unbestimmbar, wie noch nicht.


DON JUANS KINDHEIT

In seiner Schlankheit war, schon fast entscheidend,
der Bogen, der an Frauen nicht zerbricht;
und manchmal, seine Stirne nicht mehr meidend,
ging eine Neigung durch sein Angesicht

zu einer die vorüberkam, zu einer
die ihm ein fremdes altes Bild verschloss:
er lächelte. Er war nicht mehr der Weiner,
der sich ins Dunkel trug und sich vergoß.

Und während ein ganz neues Selbstvertrauen
ihn öfter tröstete und fast verzog,
ertrug er ernst den ganzen Blick der Frauen,
der ihn bewunderte und ihn bewog.


DAME VOR DEM SPIEGEL

Wie in einem Schlaftrunk Spezerein
löst sie leise in dem flüssigklaren
Spiegel ihr ermüdetes Gebaren;
und sie tut ihr Lächeln ganz hinein.

Und sie wartet, dass die Flüssigkeit
davon steigt; dann gießt sie ihre Haare
in den Spiegel, und, die wunderbare
Schulter hebend aus dem Abendkleid,

trinkt sie still aus ihrem Bild. Sie trinkt,
wie ein Liebender im Taumel tränke,
prüfend, voller Mißtraun; und sie winkt

erst der Zofe, wenn sie auf dem Grunde
ihres Spiegels Lichter findet, Schränke
und das Trübe einer späten Stunde.


DIE FLAMINGOS

In Spiegelbildern wie von Fragonard
ist doch von ihrem Weiß und ihrer Röte
nicht mehr gegeben, als dir einer böte,
wenn er von seiner Freundin sagt: sie war

noch sanft von Schlaf. Denn steigen sie ins Grüne
und stehn, auf rosa Stielen leicht gedreht,
beisammen, blühend, wie in einem Beet,
verführen sie verführender als Phryne

sich selber; bis sie ihres Auges Bleiche
hinhalsend bergen in der eignen Weiche,
in welcher Schwarz und Fruchtrot sich versteckt.

Auf einmal kreischt ein Neid durch die Volière;
sie aber haben sich erstaunt gereckt
und schreiten einzeln ins Imaginäre.


DER PAVILLON

Aber selbst noch durch die Flügeltüren
mit dem grünen regentrüben Glas
ist ein Spiegeln lächelnder Allüren
und ein Glanz von jenem Glück zu spüren,
das sich dort, wohin sie nicht mehr führen,
einst verbarg, verklärte und vergaß.

Aber selbst noch in den Steingirlanden
über der nicht mehr berührten Tür
ist ein Hang zur Heimlichkeit vorhanden
und ein stilles Mitgefühl dafür - ,

und sie schauern manchmal, wie gespiegelt,
wenn ein Wind sie schattig überlief;
auch das Wappen, wie auf einem Brief
viel zu glücklich, überstürzt gesiegelt,

redet noch. Wie wenig man verscheuchte:
alles weiß noch, weint noch, tut noch weh - ,
Und im Fortgehn durch die tränenfeuchte
abgelegene Allee

fühlt man lang noch auf dem Rand des Dachs
jene Urnen stehen, kalt, zerspalten:
doch entschlossen, noch zusammzuhalten
um die Asche alter Achs.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #68 am: September 22, 2014, 13:15:38 »
von Gummibaums Gedicht in Erinnerung gerufen:





Gebet


Dich ruf ich, Schmerz; mit aller deiner Macht
triff dieses Herz, daß es gemartert werde
und, das ich bin, dies Häuflein arme Erde,
emporhält aus der allgemeinen Nacht.

Dich ruf ich, Menschenfreund der besten Art;
mißtraue nicht, daß ich dich je verkennte;
du Schmerz, durch den uns wohl das Größte ward,
was Menschenwert von Gott und Tiere trennte.

Dich ruf ich; gib mir deinen bittern Krug;
und siehst du mich auch bang mich von ihm wenden;-
da mir das Glück allein nicht Kraft genug,
so hilf denn du mein Tagwerk mir vollenden.





Christian Morgenstern


Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Seeräuber-Jenny

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #69 am: September 22, 2014, 18:50:38 »


Arno Holz

Ich bin der reichste Mann der Welt

Ich bin der reichste Mann der Welt!

Meine silbernen Yachten
schwimmen auf allen Meeren.

Goldne Villen glitzern durch meine Wälder in Japan,
in himmelhohen Alpenseeen spiegeln sich meine Schlösser,
auf tausend Inseln hängen meine purpurnen Gärten.

Ich beachte sie kaum.

An ihren aus Bronze gewundenen Schlangengittern
geh ich vorbei,
über meine Diamantgruben
lass ich die Lämmer grasen.

Die Sonne scheint,
ein Vogel singt,
ich bücke mich
und pflücke eine kleine Wiesenblume.

Und plötzlich weiss ich: ich bin der ärmste Bettler!

Ein Nichts ist meine ganze Herrlichkeit
vor diesem Thautropfen,
der in der Sonne funkelt.
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

Jana

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #70 am: September 27, 2014, 23:10:38 »
Edgar Allen Poe
The Raven

Once upon a midnight dreary, while I pondered weak and weary,
Over many a quaint and curious volume of forgotten lore,
While I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping,
As of some one gently rapping, rapping at my chamber door.
`'Tis some visitor,' I muttered, `tapping at my chamber door -
Only this, and nothing more.'

Ah, distinctly I remember it was in the bleak December,
And each separate dying ember wrought its ghost upon the floor.
Eagerly I wished the morrow; - vainly I had sought to borrow
From my books surcease of sorrow - sorrow for the lost Lenore -
For the rare and radiant maiden whom the angels name Lenore -
Nameless here for evermore.

And the silken sad uncertain rustling of each purple curtain
Thrilled me - filled me with fantastic terrors never felt before;
So that now, to still the beating of my heart, I stood repeating
`'Tis some visitor entreating entrance at my chamber door -
Some late visitor entreating entrance at my chamber door; -
This it is, and nothing more,'

Presently my soul grew stronger; hesitating then no longer,
`Sir,' said I, `or Madam, truly your forgiveness I implore;
But the fact is I was napping, and so gently you came rapping,
And so faintly you came tapping, tapping at my chamber door,
That I scarce was sure I heard you' - here I opened wide the door; -
Darkness there, and nothing more.

Deep into that darkness peering, long I stood there wondering, fearing,
Doubting, dreaming dreams no mortal ever dared to dream before;
But the silence was unbroken, and the darkness gave no token,
And the only word there spoken was the whispered word, `Lenore!'
This I whispered, and an echo murmured back the word, `Lenore!'
Merely this and nothing more.

Back into the chamber turning, all my soul within me burning,
Soon again I heard a tapping somewhat louder than before.
`Surely,' said I, `surely that is something at my window lattice;
Let me see then, what thereat is, and this mystery explore -
Let my heart be still a moment and this mystery explore; -
'Tis the wind and nothing more!'

Open here I flung the shutter, when, with many a flirt and flutter,
In there stepped a stately raven of the saintly days of yore.
Not the least obeisance made he; not a minute stopped or stayed he;
But, with mien of lord or lady, perched above my chamber door -
Perched upon a bust of Pallas just above my chamber door -
Perched, and sat, and nothing more.

Then this ebony bird beguiling my sad fancy into smiling,
By the grave and stern decorum of the countenance it wore,
`Though thy crest be shorn and shaven, thou,' I said, `art sure no craven.
Ghastly grim and ancient raven wandering from the nightly shore -
Tell me what thy lordly name is on the Night's Plutonian shore!'
Quoth the raven, `Nevermore.'

Much I marvelled this ungainly fowl to hear discourse so plainly,
Though its answer little meaning - little relevancy bore;
For we cannot help agreeing that no living human being
Ever yet was blessed with seeing bird above his chamber door -
Bird or beast above the sculptured bust above his chamber door,
With such name as `Nevermore.'

But the raven, sitting lonely on the placid bust, spoke only,
That one word, as if his soul in that one word he did outpour.
Nothing further then he uttered - not a feather then he fluttered -
Till I scarcely more than muttered `Other friends have flown before -
On the morrow he will leave me, as my hopes have flown before.'
Then the bird said, `Nevermore.'

Startled at the stillness broken by reply so aptly spoken,
`Doubtless,' said I, `what it utters is its only stock and store,
Caught from some unhappy master whom unmerciful disaster
Followed fast and followed faster till his songs one burden bore -
Till the dirges of his hope that melancholy burden bore
Of "Never-nevermore."'

But the raven still beguiling all my sad soul into smiling,
Straight I wheeled a cushioned seat in front of bird and bust and door;
Then, upon the velvet sinking, I betook myself to linking
Fancy unto fancy, thinking what this ominous bird of yore -
What this grim, ungainly, ghastly, gaunt, and ominous bird of yore
Meant in croaking `Nevermore.'

This I sat engaged in guessing, but no syllable expressing
To the fowl whose fiery eyes now burned into my bosom's core;
This and more I sat divining, with my head at ease reclining
On the cushion's velvet lining that the lamp-light gloated o'er,
But whose velvet violet lining with the lamp-light gloating o'er,
She shall press, ah, nevermore!

Then, methought, the air grew denser, perfumed from an unseen censer
Swung by Seraphim whose foot-falls tinkled on the tufted floor.
`Wretch,' I cried, `thy God hath lent thee - by these angels he has sent thee
Respite - respite and nepenthe from thy memories of Lenore!
Quaff, oh quaff this kind nepenthe, and forget this lost Lenore!'
Quoth the raven, `Nevermore.'

`Prophet!' said I, `thing of evil! - prophet still, if bird or devil! -
Whether tempter sent, or whether tempest tossed thee here ashore,
Desolate yet all undaunted, on this desert land enchanted -
On this home by horror haunted - tell me truly, I implore -
Is there - is there balm in Gilead? - tell me - tell me, I implore!'
Quoth the raven, `Nevermore.'

`Prophet!' said I, `thing of evil! - prophet still, if bird or devil!
By that Heaven that bends above us - by that God we both adore -
Tell this soul with sorrow laden if, within the distant Aidenn,
It shall clasp a sainted maiden whom the angels name Lenore -
Clasp a rare and radiant maiden, whom the angels name Lenore?'
Quoth the raven, `Nevermore.'

`Be that word our sign of parting, bird or fiend!' I shrieked upstarting -
`Get thee back into the tempest and the Night's Plutonian shore!
Leave no black plume as a token of that lie thy soul hath spoken!
Leave my loneliness unbroken! - quit the bust above my door!
Take thy beak from out my heart, and take thy form from off my door!'
Quoth the raven, `Nevermore.'

And the raven, never flitting, still is sitting, still is sitting
On the pallid bust of Pallas just above my chamber door;
And his eyes have all the seeming of a demon's that is dreaming,
And the lamp-light o'er him streaming throws his shadow on the floor;
And my soul from out that shadow that lies floating on the floor
Shall be lifted - nevermore!

Thomas

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #71 am: Oktober 03, 2014, 08:55:24 »
Der Rabe (von E.A.Poe - eine Nachdichtung - eingestellt für Jana)

Mitternacht war längst vorüber, als ich müde grübelnd über
Einem Buch studierend saß und längst vergess‘ne Lehren las –
Schläfrig wurde mir im Kopfe, plötzlich dachte ich es klopfe,
Als ob jemand leise pochte, pochte an des Hauses Tor.
'Ein Besucher', sprach ich murmelnd, 'ein Besucher vor dem Tor?'
Etwas seltsam kam‘s mir vor.

O, ich kann mich klar entsinnen an den trostlos, öden Winter.
Jede Glut wob im Verglimmen ihren Geist im Boden ein.
Sehnlich wartend auf den Morgen, suchte Linderung von Sorgen
Ich durch lesen zu erborgen, von den Sorgen um Lenor –
Dieses reine, holde Mädchen nennen Engel nun Lenor –
Engel, den ich hier verlor.

Und das seidensachte Schwanken meines Purpurvorhangs plagte,
Jagte rasend mich mit Ängsten, Ängsten nie gekannt zuvor.
Ich erhob mich, um mein schlagend Herz zu stillen, nochmals sagend:
'Einlass fordert ein Besucher, spät noch, vor des Hauses Tor –
Was erklärte sonst das Pochen, spät noch, vor des Hauses Tor?
Ein Besucher steht davor!'

Meine Seelenkräfte wuchsen. Und ich konnte eilig rufen:
'Dame oder Herr, ich bitte herzlich um Entschuldigung.
Ihr habt schlafend mich getroffen und so leise war das Pochen,
Ein verschwindend leises Pochen hörte ich an meinem Tor,
Schwach nur, aus der Ferne klingend.' – und ich öffnete das Tor.
Dunkle Leere fand ich vor.

Lange in das Dunkel starrend, stand ich bange, fragend harrend,
Träumte Träume, die zu träumen keiner je gewagt zuvor.
Doch die Stille wollt' nicht weichen. Nirgends gab die Nacht ein Zeichen.
Nur ein Wort durchbrach das Schweigen, flüsternd klang das Wort 'Lenor?'
Antwort, leiser als zuvor, gab mein Echo mir 'Lenor?'
Stille war es, wie zuvor.

Meine wunde Seele brannte, als ich mich zur Kammer wandte.
Da vernahm ich das bekannte Pochen lauter als zuvor.
Sicher glaubt' ich zu erraten, kommt es von dem Fensterladen:
'Lass mich das Geheimnis sehen, dass mir seltsam täuscht das Ohr.
Rasend Herz, hör auf zu jagen, ein Geräusch nur täuscht das Ohr,
Schreckt dich schon der Wind, du Tor?'

Und ich öffnete den Laden. Flatternd und mit Flügelschlagen
Kam ein stattlich großer Rabe aus der Dunkelheit hervor.
Ohne Gruß und ohne Stocken sprang er, um sich hinzuhocken,
Auf die Büste an der Tür, schwang zur Büste sich empor.
Gravitätisch flügelschlagend schwang der Rabe sich empor.
Saß – und still war’s wie zuvor.

Und der schwarze Vogel machte, dass ich für mich selber lachte,
Sein gewichtiges Gebaren löste meiner Trauer Flor.
'Euer Helmbusch ist geschoren, dennoch scheint ihr hochgeboren.
Welch' plutonisch fernes Ufer, sagt mir, brachte Euch hervor?
Sagt mir eurer Lordschaft Namen, die sich in der Nacht verlor?'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.

Staunend hörte ich ihn sprechen, eines Rabens Radebrechen.
Ohne Sinn sind ihm die Worte, doch er bringt sie klar hervor.
Sicher werden Sie gestehen, sprechend, einen schwarzen Raben
Stehn auf weißer Pallas-Büste, das sah nie ein Mensch zuvor,
Solch ein Biest, solch einen Raben, das sah nie ein Mensch zuvor,
Mit dem Namen 'Nevermore'.

Doch der Rabe sprach alleine dieses Wörtchen, nur das eine,
Ganz als wäre seine Seele mit dem Worte ausgehaucht.
Keine Silbe von sich gebend, keine Feder mehr bewegend,
Saß er nun, bis ich gemurmelt: 'Andre Freunde floh’n zuvor,
Und auch ihn werd‘ ich verlieren, wie die Hoffnung ich verlor.'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.

Als die Stille nun gebrochen, als so passend er gesprochen,
Sprach ich: 'Dieses Wort alleine – zweifellos sein ganzer Schatz –
Hat er dort wohl aufgelesen, wo sein Herr verfolgt gewesen
Von des Schicksals bösen Mächten. Als die Hoffnung er verlor
Und als Ausdruck der Verzweiflung dieses dunkle Wort erkor.
Dieses 'Never-nevermore''.

Mit verführerischer Fessel band der Rabe meine Seele.
Sachte rückte ich den Sessel Richtung Türe weiter vor,
Sank in samtne Kissen nieder, der Gedankenketten Glieder
Gaukelten mir immer wieder düst're Rabenbilder vor,
Bis mein Geist in dunkeln Kreisen bei der Frage sich verlor,
Was er meint, mit 'Nevermore'?

Brütend saß ich da und schweigend, nicht die kleinste Regung zeigend,
Als des Vogel Feuerauge tief sich in mein Herz gebohrt.
Suchend nach dem tiefsten Wissen, lehnte ich den Kopf ins Kissen,
In des Sessels samtnes Kissen, dessen purpurnes Dekor
Strahlte in der Lampe Schimmer. – Bei dem purpurnen Dekor
Sitzt sie nie mehr wie zuvor.

Dichter war die Luft und dichter. Lichter schienen und entschwanden,
wie wenn Weihrauchfässer schwingend, niedersinkt ein Engelchor.
'Kerl', rief ich, 'ob Gott ob Engel dich zu mir herniedersandte,
Gib mir Ruhe, gib Befreiung vom Gedenken an Lenor!
Gib die Droge des Vergessens für die Trauer um Lenor!'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.


'Ein Prophet bist du ohn' Zweifel, Vogel bist du und ein Teufel.
Ob dich der Versucher sandte, ob der Sturm dich trug hervor,
In Verlassenheit zu stranden – meiner Seele Wüstenlanden –
Wo nur Schreckgespenster hausen, gieße Balsam mir ins Ohr!
Sag mir, gibt es Trost auf Erden? Trost für die, die ich verlor?'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.

'Ein Prophet bist du ohn' Zweifel, Vogel bist du und ein Teufel.
Sage, ob in Himmels Weiten an des Paradieses Tor –
Bei dem Gott, zu dem wir beten! – sage, ob ich einst in Eden
Wiederfinde dieses Wesen, dessen Name ist Lenor?
Jemals finde dieses Wesen, dessen Name ist Lenor?'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.

'Unhold geh, wir sind geschieden!' rief ich, 'Lasse mich in Frieden!
An plutonisch fernem Ort verglimme, wie ein Meteor!
Keine Feder lass hier liegen, geh mit deinen schwarzen Lügen!
Geh, verlass die Pallas-Büste, nimm den Schatten mir vom Tor!
Nimm den Schnabel aus dem Herzen, lass mein Herz mir wie zuvor!'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.

Und der Rabe sitzt noch immer, ohne Regung, sitzt noch immer
Auf der Büste in dem Zimmer, die als Thron er sich erkor.
Um die Augen glüht im Dunkeln ein dämonenhaftes Funkeln.
Aus dem Boden rings im Zimmer tritt sein Schattenbild hervor.
Meine Seele hebt sich nimmer aus dem Rabenschwarz empor,
Hebt sich nimmermehr empor.



Bemerkungen zu dieser Übersetzung.

Das Gedicht „The Raven“ von E.A.Poe ist schon sehr häufig übersetzt worden. Allein bei Wikisource findet man 14 Übertragungen ins Deutsche. Was kann es also rechtfertigen, das Gedicht nochmals zu übertragen? Was ist das Besondere an meiner Übertragung ins Deutsche?

Ich habe den Refrain des Gedichtes, der lediglich aus dem Wort „nevermore“ besteht, in der Originalsprache bestehen lassen und nicht mit dem entsprechenden deutschen Wort „nimmermehr“ übersetzt. Ich kenne keine andere Übersetzung, die das getan hat und habe gute Gründe für diese außergewöhnliche Vorgehensweise?

Poe beschreibt in dem kurzen Aufsatz „Philosophy of Composition“ Schritt für Schritt, wie er „The Raven“ konzipiert hat, wobei von ihm die Bedeutung des Klanges von „nevermore“ mit dem Langen O, gefolgt von einem R, als Voraussetzung für die Wirkung des Gedichts beschrieben wird. Diese Wirkung wird durch das E des Deutschen „nimmermehr“ nicht erreicht, außerdem gibt es keinen Mädchennamen, der (entsprechend zu „Nevermore – Lenor“) im deutschen zu „nimmermehr“ gewählt werden könnte.

Einige wenige Übersetzungen versuchen deutsche Worte mit langem O ans Ende jeder Strophe zu setzten, um den Klang von „nevermore“ zu erzeugen, was jedoch dazu führt, dass ein zweites wesentliches Kompositionsprinzip, welches Poe in dem erwähnten Aufsatz beschreibt, nicht erfüllt ist. Poe erachtet es für die Wirkung des Gedichts als ganz wesentlich, dass das immer gleiche Refrain-Wort in jeder Strophe aus einer neuen Perspektive erscheint, weswegen es einerseits ein sprachbegabtes Wesen ohne menschliche Intelligenz (der Rabe) ausspricht, andererseits jedoch von einem verständigen Wesen (dem trauernden Menschen) interpretiert wird. Reproduziert die Übertragung ins Deutsche den Klang des O, muss sie zwangsläufig im deutschen auf das Refrain-Wort „nimmermehr“ verzichten, und wird diesem zweiten wesentlichen Kompositionsprinzip nicht gerecht.

Ich sehe keinen anderen Ausweg aus dieser Zwickmühle, als einfach das englische Wort „nevermore“ zu lassen, und darauf zu vertrauen, dass dieses in einer Zeit, in der Anglizismen sehr gebräuchlich sind, den Leser nicht abstößt oder stört.

Mein Argument könnte dadurch entkräftet werden, dass Poes Behauptung über die grundlegende Bedeutung des Tones für die Wirkung des Gedichtes falsch ist – dem, was er über den Refrain sagt, wir kaum Widerspruch finden. Obwohl ich gewisse Zweifel hege, ob Poe in seiner Beschreibung der Entstehung des Gedichts tatsächlich in jedem Punkt wirklich so rational konstruierend vorgegangen ist, wie er es in „Philosphy of Composition“ beschreibt, so bin ich mir doch ziemlich sicher, dass er bezüglich der Bedeutung des Klanges von „nevermore“ Recht hat, weil dieses auch von anderen Dichtern in gleicher Weise beschreiben wird. Friedrich Schiller sagt z.B. in einem Brief vom 22.5.1792 an Körner: „Das Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich oft kaum mit mir einig bin.“ und an Goethe in einem Brief vom 18.3.1796: „Bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten Gegenstand, dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Grundstimmung geht vorher und auf diese folgt erst die poetische Idee.“ Das stimmt genau mit dem überein, was Poe sagt.

Zusätzlich möchte ich noch anfügen, dass ich mir große Mühe gegeben habe, die Entwicklung der poetischen Bilder möglichst genau zu übertragen. Man kann die Qualität einer Übertragung recht gut ermessen, wenn man nur die zweite Zeile der zweiten Strophe (And each separate dying ember wrought its ghost upon the floor.) mit den Schlusszeilen des Gedichts (And the lamp-light o'er him streaming throws his shadow on the floor; / And my soul from out that shadow that lies floating on the floor / Shall be lifted - nevermore!) vergleicht, denn die Entwicklung des wesentlichen Schlussbildes beginnt bereits in dieser Zeile der zweiten Strophe.

S p r i c h t die Seele so spricht ach! schon die S e e l e nicht mehr

(Friedricht Schiller)

cyparis

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #72 am: Oktober 03, 2014, 10:31:33 »
Großartig!
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Aspasia

  • Gast
Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #73 am: Oktober 03, 2014, 10:36:16 »
Ich bewundere Mascha Kaléko, die es wunderbar verstand, nüchterne Sachlichkeit mit romantischen Untertönen, Einfühlungsvermögen in die menschliche Seele und großer Herzlichkeit zu verbinden. Als außerordentlich mutige Frau - sie hatte im Dritten Reich einem Menschen durch öffentliche Warnung vor den Nationalsozialisten das Leben gerettet und sich selbst damit  in Gefahr gebracht (sie war Jüdin) - ist sie mir ein Vorbild. Allerdings ein Vorbild, das ich weder literarisch noch sozial erreichen kann.


Sogenannte Mesalliance

Die Herren offerierten Hof und Haus,
Um mir die Zukunft „rosig“ zu gestalten.
Sie hielten sie mir hin wie einen Strauß.
Ich lachte mir mein Teil und lief hinaus:
Da saßen sie mit ihren Bügelfalten.

Die klugen Nachbarn schüttelten das Haupt:
Die wird es nie zu etwas Rechtem bringen.
Und Zeiten gab’s, da ich es selbst geglaubt.
Da aber kam der Wanderer, bestaubt,
Und als er sprach, begann mein Herz zu singen.

Er hatte nichts als seine wilden Träume,
Auch war der Kindheit ferner Widerschein
In seiner Art – wie Tiere oder Bäume -
So ganz und unverhüllt er selbst zu sein.

Er glich in keinem Atemzug den andern,
Denn ihn besaß nicht Haus noch Hof und Feld.
Das Ufer jenseits war sein Ziel beim Wandern
Und nachts das Sternbild über seinem Zelt.

- Wer tauschte nicht des Krösus Scheckbuch ein,
In seiner Nähe bettelarm zu sein …

(Mascha Kaléko, 1938)

cyparis

Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
« Antwort #74 am: Oktober 05, 2014, 10:15:57 »
Danke!!!
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte