Hi Roc!
Ich weiß nicht, wie alt du bist, aber ich bin 58, und das, was du jetzt empfindest - damit ist meine Generation praktisch aufgewachsen: In den 70ern und 80ern, als ich Knabe und Teenager war, war diese ständige Angst vor dem Atomkrieg das vorherrschende Lebensgefühl - dauernd, über Jahrzehnte! Ständig war es möglich, dass irgendein Scheiß eskaliert, dass irgendein Verrückter mit Befehlsgewalt den Knopf drückt - im Nachhinein hat man ja erfahren, dass es mehrmals sehr knapp war ...
Putin ist ein Komplexneurotiker erster Güte, und die Jahre der Macht haben ihn zu einem grüßenwahnsinnigen, aber extrem verunsicherten Diktator gemacht. Er wittert überall Feinde und Verschwörung, innerhalb wie außerhalb - teils zurecht, denn die Macht wollen viele, aber dann eben auch irgendwann freiflottierend. Stalin oder Hitler ging es am Ende genauso - sie "säuberten" queerbeet und nach Gusto. Da ging es ihnen längst nicht mehr um ihr Land, sondern nur noch um den Machterhalt um jeden Preis. Stalin wollte am Ende sogar alle Ärzte in der Sovietunion hinrichten lassen, weil er ihnen als Bildungsbürgern misstraute - man fand den aufgesetzten Befehlszettel in seinen Unterlagen, bereits unterschrieben und fertig zur Vollstreckung - zum Glück verreckte er, ehe er ihn weiterleiten konnte.
Putins Weltbild war immer simpel gestrickt, seit er im kalten Krieg als Agent ausgebildet worden war - der "böse" Westen voller Kapitalisten und Nazis, der "gute" Osten mit Kommunismus (quasi auch eine Diktatur) und gesunder Volksgemeinschaft (was für ein Klischee zu glauben, man könnte von außen bestimmen, was für ein Volk "gesund" zu sein habe!).
Dahin will er im Grunde zurück, seit er an der Macht ist: Ein einfaches schwarzweiß gestricktes Weltbild mit klaren Fronten und klaren Feinden, mit denen man jederzeit von der eigenen Korruptheit und Unfähigkeit ablenken kann. Mittlerweile hat er es so gut wie geschafft: Russland ist wieder fast weltweit isoliert und muss, gefüttert von seiner gesteuerten Propaganda, annnehmen, dass der Rest der Welt wirklich aus böswilligen reichen Nazis besteht. Alle öffentlichen Gegenstimmen hat er zum Verstummen gebracht - seine Soldateska agiert wie die Gestapo im Dritten Reich: Schon der bloße Anschein von Kritik und Protest genügen für Verhaftung und Verschleppung ohne Prozess.
Blöd für ihn, dass der Westen nicht kuscht, und dass sich die alten sovietischen "Bruderstaaten" nicht so leicht ins sovietische Boot zurückholen lassen wollen wie von ihm gedacht - er, geprägt von seiner Erziehung, traute diesen Völkern nicht die Kraft und den Willen zu, für sich allein stehen zu wollen, unabhängig und frei - er dachte, die Ukraine würde innerhalb weniger Tage fallen, und der dekadente Westen würde nur zusehen und weiterhin an seinem Energiehahn hängen und weiterhin nur wirtschaftlich Gewinne mit ihm machen wollen.
Aber im Grunde kann er sogar diesen Rückschlag poitisch verwerten: Die Reaktion des Westens kann er daheim als böswilligen Unterdrückungsversuch seines Volkes verkaufen: Schaut, ich hab euch ja immer gesagt, wie die sind! Glaubt ihr mir jetzt?
Nun, langer Rede kurzer Sinn - für mich ist die "Gefahr von Osten" nichts Neues - und ich habe Putin immer misstraut. Und ich bin mit der ständigen Angst vor atomarer Auslöschung groß geworden. Das härtet ab.
Wie's weitergeht? Ich als Pessimist, was die Einsichtsfähigkeit der Menschen angeht, denke, die Lage wird weiter eskalieren. Putin kann in der Ukraine nicht mehr zurück ohne herben Gesichtsverlust, daheim wie international, und das ist das letzte, was sich ein Diktator leisten kann. Menschliche Größe oder Empathie mit unschuldigen Opfern sind von so einem selbstverliebt egomanischen und soziopathischen Menschen nicht zu erwarten.
Russland wird also weiter isoliert werden und sich einigeln - wie Nordkorea: Die ganze Welt ist unser Feind! Bisher ist der Westen vernünftig genug, nicht direkt in der Ukraine zu intervenieren - Putin und viele Menschen in Russland betrachten die Länder der alten UdSSR immer noch unbewusst als ihr persönliches Eigentum - so als wäre der Zusammenbruch der SU nur ein dummer Unfall gewesen. Deshalb reagierten sie ja auf die Ausweitung der EU und der Nato so allergisch - die alten Feindbilder wurden nie ad acta gelegt ...
Der Krieg in der Ukraine wird also weiterschwelen, auch wenn die Weltöffentlichkeit schon lange wieder zur Tagesordnung übergegangen ist - denn der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an dauerndes Unrecht. Irgendwann werden die Nachrichten aus der Ukraine so unbeteiligt zur Kenntnis genommen werden wie der ewige Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, oder die Gräueltaten von Islamisten irgendwo im mittleren Osten ...
LG, eKy