Autor Thema: Befremdend schön  (Gelesen 862 mal)

gummibaum

Befremdend schön
« am: M?RZ 11, 2022, 14:13:51 »
Woher hast du die riesengroße Narbe,
die feuerrot in deinem Antlitz lacht,
die Trauer darin sprengt mit wilder Farbe
und dich bizarr zu einem Kunstwerk macht?

Ich weiß es nicht, doch hielt sie das Verheilen     
der Wunde auf, es säumt ihr harter Rand
entblößte Tiefe, lässt den Blick verweilen
in etwas, das Zerstörung widerstand.

Und wenn ich dein entstelltes Antlitz sehe,   
entwaffnet mehr als Grauen mich das Glück,
mir ist, als ob ich Schönheit neu verstehe,
als Liebe hinter tragischem Geschick… 

Erich Kykal

Re: Befremdend schön
« Antwort #1 am: M?RZ 11, 2022, 15:58:11 »
Hi Gum!

Sprachlich schönes Werk, für mich etwas verwirrend, dass S1 und 3 die Betreffende direkt ansprechen (du), während in S2 von "sie" die Rede ist, also ein ÜBER sie sprechen in der 3. Person. Dieser Wechsel erfolgt abrupt, und man muss erst mal auseinanderklamüsern, was/wer mit dem "sie" gemeint ist.

Oder bezieht sich dieses "sie" in S2Z1 etwa auf die in S1 erwähnte "wilde" Farbe? Dass diese allerdings das Verheilen aufhält, erscheint mir nicht als logisch.
Oder könnte es die in S1Z3 erwähnte Trauer sein? Aber die wird ja durch besagte Farbe gesprengt ...
Oder ist vielleicht die Narbe gemeint (was mir am wahrscheinlichsten erscheint), obwohl man als Leser dazu neigt, Narbe mit Wunde gleichzusetzen, da sich Ersteres ja aus dem Letzteren ergibt: Eine Narbe ist die FOLGE der Verheilung, nicht deren Verhinderung, so weit ich weiß.

Du siehst, hier ist es gar nicht einfach, den korrekten Bezug herzustellen, da S1 so viele Möglichkeiten anbietet.


Zum Inhalt: Man möchte als Leser mehr erfahren über die Hintergründe des "tragischen Geschicks": War es ein Unfall, ein Verbrechen, Selbstverstümmelung? Ein Säureangriff durch einen abgewiesenen Mann, wie sie in Indien immer wieder passieren?
Woher weiß das LyrIch vom "tragischen Geschick", wenn es doch, wie eingangs S1 ausgesagt, gar nicht weiß, wie die Narbe zustande kam, und also danach fragen muss?

Die Formulierung der Conclusio befremdet mich etwas: Kann mir der Anblick eines entstellten Gesichtes "Glück" vermitteln? Warum ist eine "Entwaffnung" nötig? Ja, schon klar: Man soll unter die Oberfläche schauen, die innere Schönheit erkennen, nicht an Äußerlichkeiten hängen. Aber ist das mit diesen Worten so wirklich optimal formuliert, um diese Botschaft zu vermitteln?
Glück mag hier für Erkenntnis oder Einsicht stehen - das wären mE. die passenderen Begriffe, und eine Entwaffnung ist eigentlich nur bei Konfrontation nötig.

Aber das soll dich nicht animieren, etwas umzuschreiben - der Text ist trotz der leichten Unwuchten in sich stimmig, die Botschaft kommt an.

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy

Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Befremdend schön
« Antwort #2 am: M?RZ 11, 2022, 16:29:15 »
Danke, lieber Erich,

für den schönen Kommentar.

Ja, S2 ist unklar: gemeint ist mit "sie" die Narbe. Auch die anderen Bedenken sind wohl gerechtfertigt. Das Gedicht versucht eher eine Art Guernica-Stimmung auszudrücken, in der ich zur Zeit bin, und die ich personifiziert habe. Als wir Anfang der 60er nach Hannover zogen, fiel mir in der Innenstadt eine "kaputte" Kiche auf, die mich befremdete. Man erzählte mir, die Aegidienkirche hätten sie absichtlich als Kriegsruine stehen gelassen, damit sie in Friedenszeiten an die Schrecken erinnert. Ich schloss die Ruine in mein Herz. Das Gedicht könnte auch "Verletzte Stadt" oder "Verletzte Friedensgöttin" heißen, aber auch das fasst das Widerssprüchliche der Gefühle nicht richtig.

LG g



« Letzte Änderung: M?RZ 13, 2022, 09:02:10 von gummibaum »