Autor Thema: Friss alles  (Gelesen 981 mal)

hans beislschmidt

Friss alles
« am: Januar 31, 2022, 09:39:47 »
Friss alles

Wenn alles dich im Zweifel ließe, was
gäb' es dann noch, um dich zu erfreuen?
Willst du leben wie der Philosoph im Faß?
Das würdest du am Ende nur bereuen.

Man kann am reichen Tisch zugrunde gehen
und voll gefressen Hungers sterben -
dem Guten nah und in die Ferne sehen,
auch kleines Glück bringt oft Verderben.

Was auf dem Teller ist, soll man verschlingen,
zu große Auswahl ist zumeist suspekt -
die Kannibalenflucht wird nur gelingen,
wenn ausgekotzt, was nicht mehr schmeckt.

Man muss vom Ekel auch probieren, wenn man dem reinen Wort misstraut.
Vor dem Gewölle sich zu zieren, heißt doch: - wer nur geschluckt, hat nicht verdaut.
« Letzte Änderung: Februar 01, 2022, 13:21:54 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Sufnus

Re: Friss alles
« Antwort #1 am: Februar 01, 2022, 10:50:58 »
Hi Hans!
Das ist ein äußerst vielversprechender Versuch über die Form des Sonetts - die Technik eines kursiv gedruckten "Nachsatzes", wie eine Art "Moral von der Geschicht", ist mir bei Dir in letzter Zeit häufiger aufgefallen und ich finde dieses Element sehr gelungen. In diesem Beispiel fungiert dieser Nachsatz eben als eine Art Couplet, wodurch sich die Sonett-artige Struktur ergibt (im Sinne eines englischen Sonetts). Wobei Du durch die Mega-Überlänge der Zeilen mit acht bzw neun Hebungen, die rhythmisch-klanglische Struktur eines Couplets wieder aufhebst und den Sonettcharakter stark verfremdest (hier von mir durchaus im Sinn von V-Effekt gebraucht).
Ich glaube, diese Zeilen sind so sprachstark und originell, dass sie noch etwas mehr tender, love and care gebrauchen könnten. Einiger der metrischen Rumpler könnten noch ganz vorsichtig geglättet werden (das würde die Zeilen noch lange nicht zu "gefällig" und damit stromlienförmig angepasst machen, sondern m. E. die Widerborstigkeit eher betonen) und vielleicht könnte der Gedankengang auch noch ein paar Polituren vertragen, um den Inhalt noch etwas griffiger in Worte zu kleiden.
Ich halt mich aber mal mit konkreten Korrekturvorschlägen zurück und lass es noch etwas auf mich wirken.
Eine spannende Betrachtung zum Tellerand und über diesen hinaus. :)
LG!
S. 

hans beislschmidt

Re: Friss alles
« Antwort #2 am: Februar 01, 2022, 13:27:20 »
Lieber Suf,
Mir hat diese Form des englischen Sonetts oder Shakespeare Sonett schon immer gut gefallen. Man hat die Möglichkeit die Conclusio in den letzten zwei Zeilen durch die Überlänge fast prosahaft zu gestalten und kann sich etwas vom Reimzwang heraus bewegen.
Das ergibt eine schöne Abwechslung.
Danke für deinen Kommentar.
Gruß vom Hans

es geht um Gegensätze. Im Existenzialismus von Sartre hat alles seinen Platz:--- gut und böse sind einander ausgeliefert. Das eine Element kann ohne das andere nicht sein, genau wie Mephisto im Faust, hat auch jede Persönlichkeit zwei Seiten - zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust. Siehe auch die sadistische Mutter Theresa, die ihre Anvertrauten verprügelt hat. Das heißt nun nicht, dass jeder Mensch seinen Teufel in sich ausleben sollte aber zumindest erkennen soll, dass es immer eine Kehrseite der Medaille gibt und ohne die eine Persönlichkeit immer halbfertig präsentiert wird. Also trau keinen über dreißig, wie es in den 70ern so schön hieß, denn von Geburt an ist zwar das Element der Barmherzigkeit implantantiert, wie es Schopenhauer genannt hat aber danach durch die Sozialistation Stück für Stück abgeschliffen wird.
« Letzte Änderung: Februar 02, 2022, 10:06:17 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)