Autor Thema: Haltestellenlamento  (Gelesen 783 mal)

Erich Kykal

Haltestellenlamento
« am: Juni 22, 2020, 19:17:52 »
So quillt die Haltestelle gegenüber
an Menschen wieder über, ein Gemenge,
sich drängend in erwartungsmüder Enge,
als regte kein Gedanke sich darüber,

wie sonst die Lebenszeit zu nutzen wäre,
verlöre man sich nicht in Tagespflichten,
der Tage Zahl so endlos zu vernichten,
als lebte man nur für das Ungefähre.

Die Mienen bleiern, kalt und ohne Regen,
wie auferlegt von Priestern, die kasteiend
sich nur nach Jenseits sehnen, das befreiend
sie einzig Tröstung wissen lässt und Segen.

Man rückt sich allzu nahe unter Blicken,
die, wenn sie könnten, eisig töten würden,
so als erkenne man sich nur als Bürden,
die Schicksalsirrungen einander schicken.

Da endlich kommt der Bus! Man drängelt weiter,
als gälte jeder Sitzplatz schon das Leben -
und könnte ihre Stimmung doch nicht heben,
und macht auch keinen einzigen gescheiter.
« Letzte Änderung: August 22, 2020, 13:31:03 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Haltestellenlamento
« Antwort #1 am: Juni 23, 2021, 15:47:21 »
Hi eKy!
Bevor ich mich Aktuellerem widme, habe ich es mir einmal angelegen sein lassen, in tiefere Sinterschichten hinabzusteigen, wobei nun hier in der näheren Vergangenheit ein erster Zwischenstopp erfolgen soll.
Dabei ist bei diesem schönen Gedicht von Dir - es jährt sich so ungefähr hier auf der Wiese - der Zeitpunkt der Einstellung relevant. Es datiert auf die erste Covid-Pause, als einige Optimisten glaubten, der Spuk sei schon vorbei. Und prompt drängelten sich - im Gedicht wie im wahren Leben - die Menschen wieder eng auf eng zusammen. Sag da mal einer, der Mensch sei kein Herdentier.
Nun... gegen herdenhafte Zusammenballungen ist nicht viel einzuwenden. Das Tierreich macht es allenthalben vor und der anglophone Teil der Menschheit  hat sich einen schönen Sport daraus gemacht, Tier-Art angepasste Bezeichnungen für Schwarm/Herde/Rudel/Horde/Schule (sic)/Haufen usw. zu finden, wobei sie weit über die eingeschränkte Fantasie der deutschsprachigen Völker hinausgehen: an array of hedgehogs, a band of coyotes, a bevy of swans, a bouquet (!) of pheasants, a cete of badgers, a clowder of cats, a conspiracy (!) of ravens, a dule of doves, a gaggle of geese, a murmuration of starlings, a pride (!) of lions usw.  ;D
Nunja... wie dem auch sei - der springende Punkt bei Deinem Text, eKy, ist natürlich vor allem die Leichenbittermiene der Leute, die sich da herdenmäßig durch den Tag schleppen. Deine Zeilen sind also weniger ein Pamphlet gegen Massenauftriebe (ein bisschen schon) als vielmehr eine Schmähung gegen eine gedankenlose Lebensführung in bewusster (also nicht: vom Schicksal auferlegter) Glücksferne.
Tatsächlich ist es zwar widersinnig, aber leider nicht zu leugnen: Nicht wenige Menschen, denen es eigentlich ganz gut geht, wälzen sich dennoch tagtäglich (diesen Umstand meist demonstrativ kundtuend) in behaupteter Miserabilität (ich rede def. nicht von echter materieller oder seelischer Not!).
Schöne Zeilen von Dir zu dem Thema, dass allzu viele Menschen ihre Zeit hienieden oft aus freier Entscheidung (!) in grauem Altagskleinklein vergeuden.
LG!
S.

P.S.:
Höchstens über das "ohne Regen" in S3 ließe sich diskutieren - es ist schon (im zweiten Nachfassen) klar, dass hier  Regen im Sinne von Regung gemeint ist, aber beim ersten Lesen lässt sich kaum die Bedeutung des regnerischen Niederschlags vermeiden, eine Lese-Sackgasse, die zum Wendemanöver zwingt.
« Letzte Änderung: Juni 23, 2021, 18:47:04 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Haltestellenlamento
« Antwort #2 am: Juni 23, 2021, 19:05:12 »
Hi Suf!

Vielen Dank erst mal für die Exhumierung der Mumie!  ;D (Riecht bestimmt schon streng ...)

Dein Einwand bezüglich "Regen" ist sicher korrekt. Ich habe - damals schon - die Alternative "Regung/Segnung" erwogen, konnte mich aber klanglich nicht so recht damit anfreunden und gab der einfacheren Variante den Vorzug, die mögliche Verscherung in Kauf nehmend - spätestens beim 2. Anlauf sollte man erkannt haben, wie es gemeint ist.

Bei diesem Gedicht gab es keinen Corona-Bezug. Ich dachte beim Schreiben an die Zeit vor 2002, als ich noch in Linz wohnte und öfter mal an Haltestellen stand. Die leeren oder angepissten Gesichter, die aggressiven Mienen beim kleinsten Rempler - all das floß in die obigen Zeilen. Menschen in der Warteschleife der Existenz, harrend wie Herdenvieh, initiativlos, jeder mit einem internen Film vor Augen, um die dröge Realität auszublenden - und ich einer davon.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
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Agneta

  • Gast
Re: Haltestellenlamento
« Antwort #3 am: Juli 01, 2021, 10:16:13 »
Menschen gut beschrieben in einer Situation, die für sie unausweichlich ist, es sei denn, der Staat täte etwas sinnvolles und zahlte jedem Bürger ein Grundeinkommen. Arbeitsplätze werden soweiso balöd Mangelware sein. Die pfölicht und das Eingebundensein darin, das kann ich gut nachvollziehen. Fuhr ich doich viele jahre zur Arbeit mit der Strapßpenbahn nach Köln.
LG von Agneta

gummibaum

Re: Haltestellenlamento
« Antwort #4 am: Juli 01, 2021, 16:41:48 »
Sehr treffend hast du hier, lieber Erich,

das verbreitete misanthropische Gemüt zum Ausdruck gebracht. In zeitlicher und räumlicher Enge manifestiert es sich noch einmal gebündelter.


Gruß und Chapeau von gummibaum 

Erich Kykal

Re: Haltestellenlamento
« Antwort #5 am: Juli 01, 2021, 18:19:40 »
Hi Agneta, Gum!

Danke für eure Gedanken!  :)

Ich bin ja jetzt schon 20 Jahre weg aus der Stadt, und davor bin ich auch schon ewig nicht mehr "Bim" gefahren, wie man bei uns sagt. Ich erinnere mich noch an meine frühe Kindheit mit den langen, längs unter den Fenstern eigebauten Holzbänken. Damals war alles in der Bim irgendwie beige. Es gab 2 Wagen ohne Verbindung, und alles knarzte und kreischte, ruckelte und ruckte. Das war noch echte Erlebnisbeförderung!  ;D

Hier geht es um die Wartezeit an der Haltestelle eines Öffis (öffentliches Verkehrsmittel), und wie sehr der innere Leerlauf dabei in die Gesichter geschrieben steht.

LG, eKy


Wenn ich weiterhin empfehlen darf:

http://www.dielyrik-wiese.de/lyrik-wiese/index.php?topic=8726.0
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