Autor Thema: Der Golem I  (Gelesen 626 mal)

Erich Kykal

Der Golem I
« am: Mai 20, 2021, 20:33:08 »
Geknetet aus dem Bodensatz der Regeln
historischer und kultureller Normung,
dann eingeschlagen in Gesetzes Segeln
und damit feucht gehalten bis zur Formung,

bestehe ich aus Grenzen, um zu dienen,
damit das große Ganze funktioniert.
Ein starker Körper und ein Geist auf Schienen,
der seines Glaubens Himmel anvisiert.

Der Wille und der Plan sind nicht der meine,
nach denen die Beflissenheit sich dehnt,
die mich betreibt. Ich bin der Leere, Reine,
der nur nach dem Verordneten sich sehnt.

Danach nur, was mich meine Meister lehren
auf jenem unverbrüchlichen Pamphlet
in meinem hohlen Herzen, dessen schweren,
entrückten Schlägen sonst nichts nahe geht.

Und keine Zweifel hemmen meine Schritte
zu jedem Ziel, dahin man mich bewegt.
Ich ruhe in der Stille einer Mitte,
in der sich nichts, auch kein Gewissen, regt.
« Letzte Änderung: Juli 24, 2021, 10:25:37 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Der Golem
« Antwort #1 am: Mai 22, 2021, 12:14:43 »
Hi eKy!

Der Golem, der aus Lehm geformte, willenlose Diener seines Schöpfers: Der bekannteste Vertreter ist wohl das Wesen, das der Sage nach der Hohe Rabbi Loew im Prag der frühen Neuzeit, wenige Jahrzehnte vor den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, erschaffen hat.

Die Herstellungspraxis des Golem ist dabei durchaus anspielungsreich - aus Lehm soll ja vor Urzeiten auch ein anderes Geschöpf geknetet worden sein. Steckt also in jedem Golem auch ein bisschen Adam? Oder sollte es gar umgekehrt sein?

Dein Gedicht, lieber eKy, scheint letzterer Deutung anzuhängen, auch ohne dass es explizit ausgesprochen wird. Der besungene Golem ist in seiner hingebungsvollen Adhärenz an die Gesetze der Mächtigen eine interessante Mischung aus einem willenlosen Auftragsmörder, einem duckmäuserischen Biedermann und einem ins transzendente strebendem Gläubigen. Am Ende ist er wohl so etwas wie ein kurioses Haustier im Käfig seines Herren - ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht.

Bei der ersten Strophe habe ich übrigens noch etwas gefremdelt - die Bilder sind in dieser Strophe gewissermaßen stärker als die Worte, in die sie sich kleiden; so klingt die zweite Zeile fast etwas nach Soziologensprech und erzeugt für mich auf diese Weise doch einige sprachliche Unwucht. Und auch die "Segel" in Zeile 3 sind für mich auf halbem Weg zu einer dem Reimzwang geschuldeten Formulierung, assoziiert man Segel doch eher nicht mit Frischhaltefolie oder Butterbrotpapier, in die etwas zur feuchten Aufbewahrung eingeschlagen wird. Braucht es diese Strophe wirklich?

Ab Strophe 2 glitt ich jedoch äußerst lesefreudig durch die Zeilen und landete dann durchaus unerwarteterweise (aber keineswegs zu meinem Missfallen!) bei Herrn Rilke. :)

LG!

S.



« Letzte Änderung: Mai 22, 2021, 12:35:19 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Der Golem
« Antwort #2 am: Mai 22, 2021, 13:40:45 »
Hi Suf!

Der feuchte Ton wurde früher, vor der Erfindung der Kunststoffe, in größeren Mengen in luftdichtes Segeltuch eingeschlagen, damit er bei Transport oder Lagerung nicht austrocknete.

Das mit den Regeln der Normung von Kultur und Geschichte, also Tradition, ist mir wichtig für das Verständnis der Figur. Der Golem ist hier ein Gleichnis auf den obrigkeitsgläubigen, traditionalistischen, vaterländischen Menschen, der kritische Gedanken verdrängend, kein Gewissen zulassend, für das von oben verordnete Gemeinwohl zu handeln glaubt, dem, was "Sicherheit" für ihn bedeutet: Stabilität, Reinheit, Ordnung.

Der brave Befehlsempfänger, das funktionierende Rädchen - die Leute, die in Ausschwitz ohne Zögern das Gas aufdrehten, die Leute, die, verschanzt hinter der geheiligten Monstranz ihrer "Soldatenpflicht" wehrlose Geiseln erschossen oder Frauen und Kinder in verrammelten Kirchen verbrannten, die Leute, die heute auf Demonstranten einprügeln, die Leute, die gern zur Stasi gingen, oder heute zum Militär, oder zur Polizei. Menschen, die ihr eigenverantwortliches Handeln an der Tür zu "Gesetz und Ordnung" abgegeben haben, und auch noch andere darüber bestimmen lassen, was genau Gesetz und Ordnung zu sein hat, und wo die Grenzen der Mitmenschlichkeit zu liegen haben.

Es gibt diesen interessanten Versuch:

Menschen, die nicht wussten, dass eigentlich sie die Probanden waren, wurde weisgemacht, sie wären engagiert, um bei einem Test über Gedächtnisleistung im Zusammenhang mit körperlichen Schmerzreaktionen Hilfsdienste zu leisten.
Ein autoritär wirkender, selbstsicherer Mann im weißen Kittel leitete den Test, und in einer getrennten Kabine saß ein Schauspieler, der das Versuchsobjekt spielte. Der unwissende Proband wurde angewiesen, Fragen zu stellen, und jede falsche Antwort mit einem nächsthöheren Stromstoß zu bestrafen. Dazu hatte er eine lange Schalterreihe vor sich, und jeder weitere Schalter erhöhte die Stromstärke, bis hin zu einer potentiell tödlichen Dosis - so wurde ihm gesagt. Der Schauspieler tat natürlich nur so, als würde er leiden, er bettelte und flehte nach einer gewissen Stromstärke um Abbruch, tat, als würde er weinen.
Weigerte sich der Proband, mitzumachen, wurde er vom befehlsgewohnten Versuchsleiter eingeschüchtert. Nur wenige weigerten sich dennoch. Die meisten machten mit, und wenn sie mal zweifelten oder unsicher wurden, half ihnen der "Chef" mit Befehlen drüber weg, oder er versicherte ihnen, dass alles "seine Ordnung" habe. Eine Mehrheit brach irgendwann doch noch ab, jedenfalls vor der tödlichen Stufe, aber eben nach durchaus schon lang dauernder Folter für den Gefragten.
Manche brauchten nicht mal die Hilfe der stützenden Autorität - sie folgten stur und gedankenlos dem verlangten Prozedere bis über die tödliche Dosis hinweg - einfach, weil es ihnen befohlen worden war ...

Der Versuch zeigt die Herdenmentalität des Menschen, und wozu er bereit ist, wenn andere die Verantwortung übernehmen. Was er andern antut, nur um im kuturellen Kontext zu bleiben, eine "nützliche Aufgabe" zu erfüllen - auch wenn die meisten irgendwann zweifeln oder zögern, sie tun es bei ausreichend autoritärem Druck dann doch, zumindest bis zu einer gewissen Stufe der Eskalation.
Und nicht wenige machen sogar - mit oder ohne Überzeugung für die moralische Korrektheit ihres Tuns - darüber hinaus weiter ... - das sind die Golems.


LG, eKy
« Letzte Änderung: Juni 08, 2021, 14:37:07 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Der Golem
« Antwort #3 am: Mai 26, 2021, 15:32:31 »
Lieber Erich,

gut, dass „geknetet“ vom Lehm abstrahiert und die Gesetzesregel zum Rohstoff der Formung macht. Auch das Judentum fehlt, und so kann sich jeder als Schöpfer angesprochen fühlen, der Kraft und Schutz bei seelenlosen, fremdbestimmten  Dienern sucht, die einem „großen Ganzen“ Zusammenhalt geben sollen, aber schnell zu Handlangern bei der Umsetzung unmenschlicher Befehle  werden.

Gefällt mir bestens.

Grüße von gummibaum

Erich Kykal

Re: Der Golem
« Antwort #4 am: Mai 26, 2021, 21:51:32 »
Hi Gum!

Vielen Dank für diesen von mir so eigentlich nicht antizipierten Blickwinkel!

Für die modernen Golems muss es ja nicht unbedingt ein tatsächlicher "Herr und Meister" sein, ein "Führer", sondern sie können sich auch einem Konzept verschreiben, ohne das für sie keine lebenswerte Welt denkbar wäre. Dem dienen sie dann ohne weitere Hinterfragung, Kompromisse oder Gewissensbisse.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
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Agneta

  • Gast
Re: Der Golem I
« Antwort #5 am: Juni 08, 2021, 09:50:01 »
nachdem sich hier nun mehrere Golems angesammelt haben, beginne ich bei dem ersten, weil ich vermute, dass die anderen darauf aufbauen. Irgendwie hatte ich Golem als Science Fiction Figur im Gehör, irgendein Film, mehr so monstermäßig häßliche Figur. Ich habe dann gegoogelt und muss sagen, dass Sufnus toller Kommentar dem Gedicht eine Ebene gibt, die ich nicht gesehen hätte. Klasse. Ich hätte es eher so gelesen wie Gum. Pragmatischer, näher am Alltag. Wie auch immer, ist die Unterwürfigkeit nie mein Ding gewesen, Es ist für mich eher die Art von Missbrauch der Macht, von anderen Dienen zu fordern. Insofern ist die Figur des Golem für mich eine völlig artfremde, in die ich mich nicht hineinversetzen kann.
Nichtsdestotrotz ist es eine gute gesellschaftliche Spiegelung, denn z.B. Kirche oder Krieg oder Politik würden niemals funktionieren, wenn es nicht unendlich viele Golems gäbe.
Der Versuch mit dem Strom zeigt es auch ganz deutlich. Ich frage mich, was das für Leute sind, die sich da als Probanden melden... LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Der Golem I
« Antwort #6 am: Juni 08, 2021, 14:44:14 »
Hi Agneta!

"Gemeldet" hat sich keiner. Es wurden aus jeder Bevölkerungsgruppe Menschen eingeladen, und man versprach sogar Bezahlung, wenn nötig. Es waren also ganz normale Durchschnittsbürger, keine Kontrollsadisten, die sich eigens gemeldet hätten, um jemanden quälen zu können.

Ich habe den Test damals in einer Doku gesehen, als er in der Schweiz gemacht wurde. Ich werde nie diesen absolut emotionslosen, roboterhaften Schweizer vergessen, der mit leerem Gesicht und in modulationslosem Schwitzerdüütsch einfach den Versuch "abarbeitete", als würde er Akten abheften, bis hin zu: "Die Antwoort ist fallsch. Ich bestraafe sie mit 360 Vollt."

LG, eKy
« Letzte Änderung: Juli 24, 2021, 10:29:30 von Erich Kykal »
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Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Der Golem I
« Antwort #7 am: Juni 08, 2021, 19:48:17 »
nein, das sind keine normalen Menschen, die sowas machen. ich würde das nicht tun, auch wenn man mir 10.ooo E böte.