Stummer Schrei
Manchmal braucht man Zeit, bis man etwas akzeptieren kann. Die Vernunft, das Pflichtbewusstsein geben einem vor, was zu tun ist. Unausweichlich. Doch die Gefühle spielen nicht mit. Bis man begreift, sich eingesteht. Die Angst niederkämpft, die einen anspringt wie ein tollwütiger Hund. Das braucht Zeit. Einfach Zeit.
Anna schiebt den Gartenstuhl ganz hinten in die Ecke des Balkons, um nicht in die grelle Sonne schauen zu müssen. Ihr Leben sollte hell sein wie der junge Tag. Ihr Mann und sie sind Rentner, es geht ihnen gut. Eigentlich.
Der kleine Hund macht allerlei Schabernack um Anna aufzumuntern. Er spürt wohl ihre Traurigkeit. Wie lieb er ist! Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Aber er wird ihr nicht helfen können.
Anna macht sich Sorgen um ihren Mann. Seit der Corona-Impfung zeigt er seltsame, ja, erschreckende Ausfälle. Er hat Probleme, Sätze zu bilden, Worte zu finden, am Gespräch teilzunehmen. Und oft befällt ihn eine bleierne Müdigkeit. Seit drei Wochen geht das so. Er scheint um zehn Jahre gealtert, obwohl er erst sechsundsechzig ist. Auch Anna ging es nicht gut nach der Impfung, aber mittlerweile hat sie sich wieder erholt.
Als sie die ersten Spuren im Bad entdeckt, hält sie es zunächst für Tropfwasser vom Händeaschen. Oder vielleicht hat der Hund…? Ein paar Tage später fügt sie dem Wischwasser Desinfektionsmittel zu und schaut im Internet nach Inkontinenzhosen für Männer. Versichert wird eine diskrete Verpackung.
Als sie sich traut, ihren Mann darauf anzusprechen, trifft sie auf denselben Blick, den sie schon von Mutter kennt. Ihrer Mutter, die sie zwei Jahre lang als Pflegefall betreut hat. Ein Blick voller Traurigkeit. Einer, in dem ungewollter Abschied liegt.
Er trifft sie wie ein Geschoss. Geht tief hinein. Bis auf den Grund. Und holt die alten Ängste hervor. Die Angst, den geliebten Menschen zu verlieren und die vor den Schuldgefühlen, alles und doch nie genug zu tun. Die Angst, irgendwann einfach keine Kraft mehr zu haben. Sich selbst nicht mehr zu spüren.
Manchmal braucht man Zeit, um etwas akzeptieren zu können. Zeit, die man nicht hat.