Hi gum!!!
Ein Frühlings- und Wald-Gedicht.
Man erwartet entweder naturverklärenden Lobpreis einer heilen Welt fernab der unbehausten Urbanität oder aber dystopische Kassandraklänge, die vor der Naturzerstörung durch die wuchernde Zivilisation warnen. Es kommt hier aber alles etwas anders und das ist die besondere Stärke dieser Zeilen, die für mich zum Besten gehören, was seit langem hier zu lesen war! Große Begeisterung!
Für den modernen Menschen unserer Breiten ist der Wald zumeist ein romantisch verklärter Sehnsuchtsort, in dem - zumal zur schönen Frühjahrszeit - wohl schlimmstenfalls ein Heuschnupfen droht. Abgesehen von dieser denkbaren Anfechtung aber ist hier die Welt noch in Ordnung: Auf ins Grüne also - der Wald ruft!
In der alten Zeit war das nicht so. Der Wald war ein gefährlicher Ort - Rückzugsgebiet für die alten Spitzenprädatoren, Braunbär und Wolf, die in der Kulturlandschaft ihren angestammten Platz an das zweibeinige Raubtier längst verloren hatten, im Dickicht der Wälder aber noch eine Ahnung ihrer ehemaligen Herrschaft ausübten. Auch menschliches Gesindel mag sich in den Wäldern getummelt haben, die Ausgestoßenen der Städte, die im Schatten der Baumkronen ihren Hass auf die Herrschenden pflegten. Die Jahrhunderte, in denen der Wald ein Angst-Ort war, haben ihre Spuren in den alten Erzählungen noch überdeutlich aufbewahrt - nur liest diese Geschichten aus einer anderen Zeit heute keiner mehr.
Der Gott des Waldes war Pan, um seinen Hals baumelte die nach ihm benannte Flöte, Trophäe einer Vergewaltigung der Nymphe Syrinx. Pan, dieser wild-dämonische Gott, verbreitete Angst und Schrecken unter den Menschen: die Angst vor dem Wald. Noch heute reden wir, so wurde die Erinnerung in der Sprache bewahrt von der pan-ischen Angst.
Die namenlosen Mitmenschen des lyrischen Ichs in gums wunderlichem und wunderbarem Gedicht haben sich offenbar die alte Furcht vor dem Wald bewahrt - auch wenn die Warnung, die Bäume schlügen aus, einen Schwenk ins Humoristische nimmt, typisches Kennzeichen der augenzwinkernden und doch zugleich tiefernst empfundenen Lyrik von gum. Zu unser aller Glück schert sich das lyrische Ich nicht um den wohlmeinenden Rat der Dörfler und erlebt so ein gar merkwürdiges Abenteuer. Durch Baumharz als Waldgeist getarnt, wird das lyrische Ich zum Mittelpunkt eines beseelten Tanzes der Baumgeister. Hamadryaden wurden sie von den Alten genannt - in den Ents von Tolkien begegnen sie uns in einer Erzählstimme des 20. Jh. wieder.
Bei diesem stürmischen Baumreigen muss man wohl unwillkürlich an das Gedicht von Gottfried Keller denken:
[...]
Fern am Rande fing ein junges Bäumchen an sich sacht zu wiegen,
und dann ging es immer weiter an ein Sausen, an ein Biegen;
kam es her in mächt'gem Zuge, schwoll es an zu breiten Wogen,
hoch sich durch die Wipfel wälzend kam die Sturmesflut gezogen.
Und nun sang und pfiff es graulich in den Kronen, in den Lüften,
und dazwischen knarrt' und dröhnt' es unten in den Wurzelgrüften.
Manchmal schwang die höchste Eiche gellend ihren Schaft alleine,
donnernder erscholl nur immer drauf der Chor vom ganzen Haine!
Einer wilden Meeresbrandung hat das schöne Spiel geglichen;
alles Laub war weißlich schimmernd nach Nordosten hingestrichen.
Also streicht die alte Geige Pan der Alte laut und leise,
unterrichtend seine Wälder in der alten Weltenweise.
[...]
Die Ahnung der Gefahr, die vom Wald ausgeht, wird aber erst in der letzten Strophe offenbar. Der Erzähler kehrt aus dem Walde heim und findet sein Dorf zerstört. Nach der Erfahrung der Naturgewalt im Walde steht die bürgerliche Welt im wahrsten Sinne Kopf ("jedes Haus gedreht").
Doch auch in diesem Bild, das weniger inspirierten Schreibern zu einem platten Apokayptus gerönne, ist der Schrecken zivilisiert. Wir wandern mit dem lyrischen Ich in kindlichem Staunen durch die verwandelte Siedlung und sie nimmt sich nicht aus, wie ein zerstörtes Gemeinwesen, eher wohnt der Szenerie etwas magisch Verwandeltes inne. Ein avantgardistischer moderner Maler hätte die Häuser vielleicht so gemalt, multiperspektivisch, schwankend und ver-rückt im Wortsinne.
Ein Frühlings- und Waldgedicht der anderen Art. Der besten Art!
Begeisterte, ja hingerissene Grüße!
S.