Autor Thema: Tempora mutantur  (Gelesen 1636 mal)

AlteLyrikerin

Tempora mutantur
« am: Mai 06, 2021, 13:56:53 »
Kinderwelt -
in den Hinterhöfen
unserer Straße.

Die Väter waren
in Kriegsgefangenschaft,
vor der Kohle
oder auf dem Bau.

Die Mütter
kochten Essen oder Wäsche.

Es gab keine Computer,
Handies oder Playstations.

Wir hüpften in Kreidequadraten
oder spielten mit unseren Puppen.

Scherenschnitten aus Pappe,
die wir mit den wunderbaren
Kleidern aus dem
Quellekatalog schmückten.

Dass uns Wesentliches fehlte,
wussten wir nicht.

Es wurde den „Begabteren“ von uns
auf dem Gymnasium
beigebracht.
« Letzte Änderung: Mai 14, 2021, 12:35:08 von AlteLyrikerin »

Erich Kykal

Re: Tempora mutantur
« Antwort #1 am: Mai 06, 2021, 18:10:24 »
Hi AL!

Die "guten alten Zeiten", wozu Erinnerung sie oft verklärt ... eine Reminiszenz mit leichten kritischen Untertönen in der Conclusio, sowohl auf die damaligen Zeiten wie auf die heutigen.

Die "Scherenschnitte" haben ein "e" zuviel.

Nüchtern konstatierend beschreibst du die damaligen Zustände, den Lebensalltag, die noch lebendigen Traditionen und Rollen, vergleichst mit der modernen Welt, ohne zu werten (oder wenn, dann bleibt es dem jeweiligen Leser überlassen, wie er es auslegt)

Gern gelesen!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Tempora mutantur
« Antwort #2 am: Mai 07, 2021, 10:42:55 »
Hi Erich,

herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Den allzu üppigen Gebrauch des "e" habe ich korrigiert.
Ja, die "guten alten Zeiten" werden oft verklärt betrachtet. Aber, wie Du selbst bemerkt hast, zeichne ich ein eher nüchternes Bild.

Anlass für den Text war, dass mir aktuell sehr klar geworden ist, welche umstürzenden Veränderungen sich während nur einer Lebenszeit vollzogen haben. Sie betreffen nicht nur die Situation der Kinder. Meine Eltern hatten kein Telefon, kein Auto, machten nie einen Urlaub. Es gab Internet, wenn überhaupt, dann nur für Wissenschaftler. Klimakatastrophe war ebenso ein Fremdwort wie Pandemie oder Islamismus oder Transgender, oder ...

Aber da ich keinen Roman schreiben wollte, habe ich mich auf wenige Beispiele beschränkt und nur den Blickwinkel der Kinder berücksichtigt.

Die wenigen Kinder aus der Arbeiterschicht, die damals das Gymnasium besuchen durften, wurden tatsächlich nach bürgerlichen Idealen geschult (heute, so denke ich, werden sie vor allem "zugerichtet" auf ihre ökonomische Verwertbarkeit in einer Leistungsgesellschaft). In beiden Fällen steht kein tragfähiges Ideal hinter dem Bildungskonzept. Uns Kindern aus der Pleps wurde sehr deutlich eingebläut, dass uns etwas fehle und wir uns anstrengen müssten, um zum erlauchten Kreis der "Besseren" Zutritt zu erlangen.

Danke für Deine Bemerkungen. Wie die Veränderungen zu bewerten sind, hängt ja stark vom Lebenshintergrund und dem Fokus der Leser ab. Das wollte ich in der Tat nicht vorwegnehmen.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: Tempora mutantur
« Antwort #3 am: Mai 07, 2021, 13:47:47 »
Hi AL!

Ich als Lehrer in der "Neuen Mittelschule" (= Hauptschule, eigentlich hat sich nur die Bezeichnung bei uns geändert ...) bemerke dies heute noch, aber nicht als Herabsetzung höherer Schichten, sondern aus Dünkel, Klischeedenken oder Gleichgültigkeit aus der elterlichen Arbeiterschicht heraus!

Da gibt es gar nicht so selten Schüler, die würden m.E. auf dem Gymnasium locker mithalten, auch von der Erziehung und Arbeitshaltung her, nicht bloß dem Intellekt. Aber die Eltern stecken sie in die Hauptschule! Selbst wenn man mit ihnen über weiterführende höhere Schulen nach der 4. Klasse spricht, hört man Sprüche wie: "Ich habe eine Lehre gemacht, und mein Vater und Opa schon vor mir. Warum soll ich es mit meinem Kind anders machen?" - oder: "Was für mich gut genug war ...!" - oder: "Mei Sohn soll ana vo de Großkopfadn werdn!? Net mit mia!!!"

Selten lassen sich Eltern umstimmen - es ist oft, als WOLLTEN sie nicht, dass ihre Kinder bessere Chancen haben, oder besser verdienen als sie. Aus Angst, abgehängt zu werden, oder dass die eigenen Kinder später mal naserümpfend auf sie herabschauen? Aus Angst, es könnte zu teuer werden?

LG, eKy
« Letzte Änderung: Mai 07, 2021, 13:51:33 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Tempora mutantur
« Antwort #4 am: Mai 08, 2021, 13:05:06 »
Hi Erich,

diese Haltung von Eltern kenne ich, und die von Dir angestellten Vermutungen sind sicherlich teilweise zutreffend. Aber sie greifen zu kurz um das Phänomen vollständig zu erklären.
Im Bürgertum ist eine Haltung zu erkennen, die den Willen und das Recht auf akademische Bildung verinnerlicht hat. Den Kindern wird unter allen Umständen ein Studium anempfohlen, auch wenn sie lieber Schreiner werden wollen. Bei den bildungsfernen Milieus ist noch tief verankert, was aus der ständischen Gesellschaft stammt und sich tief eingeprägt hat. Jeder hat seinen angestammten Platz in der Gesellschaft. Durchlässigkeit des Modells für Begabungen war nicht vorgesehen und ist auch heute noch schwer. Es gibt so etwas wie ein kollektives Gedächtnis, Prägungen, die bis ins Unbewusste reichen. All das wirkt, so denke ich, auch in den Eltern, neben ihren Ängsten, was die "bessere" Bildung au ihnen machen wird; ob sie nicht Fremde werden, die sich über ihre Eltern erheben und sich ihrer schämen.

Sehr interessante Fragestellung. Ich werde mal sehen, ob ich seriöse Forschungsmaterialien darüber finde.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

gummibaum

Re: Tempora mutantur
« Antwort #5 am: Mai 08, 2021, 16:20:45 »
Liebe AlteLyrikerin,

du hast die kindliche Welt in früheren Arbeiterfamilien gut in Bildern skizziert.

"Dass uns Wesentliches fehlte,
wussten wir nicht."

zeigt beiläufig, dass das Wesentliche das ist, was jeweils zur Abgrenzung von anderen dient und so ein Selbstbewusstsein schafft.

Sehr gern gelesen.
LG g

   
« Letzte Änderung: Mai 08, 2021, 16:22:31 von gummibaum »

AlteLyrikerin

Re: Tempora mutantur
« Antwort #6 am: Mai 10, 2021, 13:35:06 »
Lieber gummibaum,

herzlichen Dank für Deinen Kommentar. es freu mich sehr, dass Dir meine Skizze gefällt.
Liebe Grüße, AlteLyrikerin.